Überraschend anders

Überraschend anders
Kritik zum Tatort Weimar „Die harte Kern“
ARD/MDR Tatort Weimar “Die harte Kern”: Lessing (Christian Ulmen) und Kira Dorn (Nora Tschirner) sind tatverdächtig und müssen vor ihren Kollegen fliehen. (Foto: MDR/Wiedemann&Berg/Stephanie Kulbach)
Lessing (Christian Ulmen) und Kira Dorn (Nora Tschirner) können nicht fassen, dass Stich (Thorsten Merten) zu Eva Kern (Nina Proll) hält. (Foto: MDR/Wiedemann&Berg/Stephanie Kulbach)

Überraschend anders präsentierte sich der Tatort Weimar mit dem Titel „Die harte Kern“. Statt der zu erwartenden Slapstickkomödie mit den Kriminalhauptkommissaren Kira Dorn (Nora Tschirner) und dem immer noch vornamenlosen Lessing (Christian Ulmen) war die Folge ein spannender Krimi mit einer außergewöhnlichen Geschichte und klugem Humor. Es gibt ihn also doch noch, den Tatort, der Spannung mit Spaß zu vereinen weiß. Zum ersten Mal nahmen Dorn und Lessing einen Fall ernst, vielleicht auch nur, weil sie persönlich betroffen waren. Irgendwer versuchte Lessing den Mord an dem Schrotthändler Harald Knopp (Heiko Pinkowski) und Kira Dorn einen Mordversuch an Rainer Falk (Jan Messutat), der Knopp in einem Mordprozess völlig überraschend ein Alibi gegeben hatte und damit einen Schuldspruch verhinderte, anzuhängen. Hier kam dann auch die Sonderermittlerin Eva Kern (Nina Proll) ins Spiel, die sich als beinharte Karrierefrau nicht von Lessings Unschuld überzeugen lassen wollte und ihn unter Mordverdacht in Untersuchungshaft steckte – zwar in einer Ausnüchterungszelle, aber immerhin. Lessing saß ein, Dorn musste den Fall weitgehend alleine aufklären, im eigenen Interesse, wollte sie ihren Ehemann doch bei der Geburtstagsparty des gemeinsamen Sohnes an ihrer Seite wissen und sei es auch nur zum Aufräumen. Grund genug also, die Ermittlungen etwas ernsthafter als für den Weimarer Tatort üblich anzugehen. Ein spannendes Katz- und Mausspiel rund um die verschwundene, millionenschwere Statue der “Göttin des Unheils” begann, in dem sich Kommissariatsleiter Kurt Stich (Thorsten Merten) im Zweifel hinter die Sonderermittlerin und nicht seine Kommissare stellte und Streifenhörnchen Lupo (Arndt Schwering-Sohnrey) mehr mit seiner neuen großen Liebe als mit dem Fall beschäftigt war. Die Auflösung kam etwas plötzlich und die Täterin war wieder Katharina Marie Schubert in diesem Fall in der Rolle der Hannah Knopp, der geldgierigen Schwägerin des Opfers. Nach Schuberts Auftritten als mörderische Altenpflegerin im Tatort Stuttgart und schussfeste Unternehmergattin im Tatort Frankfurt spielte sie in diesem Tatort zum dritten Mal in diesem Jahr die Täterin – etwas zu viel des Guten, zumal die drei Täterfiguren sich nicht wirklich von einander unterschieden.

Abgesehen davon war das der erste Tatort aus Weimar, der den Namen Krimi verdient. Die kurzweilige und von Regisseurin Helena Hufnagel durchdacht in Szene gesetzte Geschichte aus der Feder der Drehbuchautoren Sebastian Kutscher und Deniz Yildizr wusste durchweg zu überzeugen. Und die neue Ernsthaftigkeit steht dem sonst so komödiantischen Ermittlerduo Dorn und Lessing ausgesprochen gut. So darf es im Tatort aus Weimar gerne weitergehen! /sis

Kira Dorn (Nora Tschirner) verspricht Lessing (Christian Ulmen) aus der U-Haft zu holen. (Foto: MDR/Wiedemann&Berg/Stephanie Kulbach)

Jetzt ermittelt Bessie mit Dick und Doof

Jetzt ermittelt Bessie mit Dick und Doof
Kritik zum Polizeiruf 110 München „Der Ort, von dem die Wolken kommen“
Polizeiruf 110 “Der Ort, von dem die Wolken kommen”: Polou (Dennis Doms) wird verwahrlost am Isarufer aufgefunden. (Foto:  BR/Roxy Film/Hendrik Heiden)

Ein neues Team war dem Publikum nach dem Ausstieg von Matthias Brandt als Hanns von Meuffels versprochen worden. Ein neues Team, von dem man sich neuen Elan, neue Ideen und neue Impulse für den Polizeiruf aus München erhofft hatte. Doch was die Zuschauer in der Auftaktfolge über sich ergehen lassen mussten, war an Schwachsinn nicht zu überbieten. Die neue „Ermittlerin“ des Polizeirufs aus München ist eine unreife Streifenpolizistin namens Elisabeth genannt Bessie Eyckhoff (Verena Altenberger), zwar mit viel Herz, aber wenig Verstand. Ihr zur Seite stehen der dauergeile Wolfgang „Wolfi“ Maurer (Andreas Bittl) und Cem Halac (Cam Lukas Yeginer), Bessies verfressener Halbbruder mit einer gehörigen Portion Übergewicht, die im Streifendienst wohl eher hinderlich sein dürfte. Angeleitet werden Bessie und “Dick und Doof” von Kriminalhauptkommissar Christian Strasser (Norman Hacker), der aber mehr an Bessies Beförderung interessiert ist, als an der Aufklärung des Falles. Ein zugegeben außergewöhnlicher, aber dennoch nicht neuer Fall: Wo kommt der verwahrlost an der Isar aufgefundene Junge Polou (großartiger Dennis Doms) her, was hat er erlebt und sind noch mehr Kinder in Gefahr? Einen Mord gibt es nur am Rande, das Motiv für die Isolation und Misshandlungen der Kinder wird ebenso wenig klar, wie der Fortgang der Ermittlungen. Denn Bessie löst ihren Fall ganz allein vom bequemen Sessel aus – in Doppelhypnose marschiert sie zusammen mit Polou in das Horrorhaus und rettet zwei weitere Kinder und das alles, ohne den leerstehenden, eher gruseligen Krankenhausflügel auch nur zu verlassen. Für Polou nimmt die von der ehrgeizigen Psychologin Dr. Kutay (Katja Bürkle) rücksichtslos durchgeführte Hypnosetherapie ein dramatisches Ende. Und auch die beteiligte Jugendbeamtin hat eher ihre eigenen Interessen als das Wohl der Kinder im Sinn.

Mit Krimi hatte dieser Polizeiruf der Drehbuchautoren Thomas Korte und Michael Proehl unter der Regie von Florian Schwarz wieder einmal gar nichts zu tun. Als Psychothriller könnte er gerade noch durchgehen, wäre da nicht so viel Unrealistisches im Spiel. Polizeioberkommissarin Bessie ermittelt in Trance, immer zwischen Wirklichkeit und Traum. Das mag für Freunde dieses Genres interessant sein, für echte Krimifreunde aber war es verlorene Zeit. /sis

Goya – eine überragende Erscheinung der Kunstgeschichte

Goya – eine überragende Erscheinung der Kunstgeschichte
Selbstporträt – Prado Madrid

Francisco José de Goya y Lucientes war der wohl begabteste und vielschichtigste Künstler Spaniens, eine überragende Erscheinung der Kunstgeschichte, der alle Techniken beherrschte und bis ins hohe Alter perfektionierte. Er verfügte über eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe, die sich nicht nur an der Natur, sondern insbesondere auch an den politischen und gesellschaftlichen Begebenheiten seiner Zeit ausrichtete. Er prangerte die Missstände der Gesellschaft an, die Gräueltaten des Krieges, aber auch die Dummheit der Menschheit ganz allgemein, ihre Fehler und Schwächen. Seine pessimistische Weltsicht, geprägt von seiner katholischen Gläubigkeit in Verbindung mit den Erfahrungen und Erlebnissen durch Krieg und Vernichtung und den Freiheitsgedanken der Französischen Revolution, findet sich in seinen Zeichnungen und Grafiken wieder, die auch sein eigenes Schicksal spiegeln. Denn der junge Goya wollte gerne aufsteigen in der adeligen Gesellschaft, wollte Gefallen finden bei Hofe, was ihm aber lange Zeit versagt blieb. So sehr er sich auch um die Gunst der Madrider Aristokratie und ihrer Akademie der Künste bemühte, die strengen Hierarchien verhinderten den Aufstieg des unbekannten Malers aus der Provinz. Erst spät fand er die gewünschte Anerkennung, wurde durch König Carlos III. sogar zum Hofmaler ernannt, portraitierte die Königsfamilie Carlos IV. und wurde schließlich doch noch in die Akademie aufgenommen. Dennoch blieb er Untergebener, selbst im Kreise der Akademiekollegen hatte er keinen leichten Stand. Schließlich löste er sich vom Hof, von der Akademie und deren Zwängen. Am Ende emigrierte er nach Bordeaux, wo er im hohen Alter von 81 Jahren starb.

Geboren wurde Francisco Goya am 30. März 1746 in Fuendetodos in der Provinz Saragossa im Hause seines Onkels. Seine Mutter Gracia Lucientes hielt sich mehr bei ihrem Bruder, denn bei ihrem Mann José in Saragossa auf. Francisco war das vierte Kind der Familie, zwei weitere folgten. Wie in jener Zeit üblich übernahm der älteste Sohn Tomás die einst sehr gut gehende Vergolderwerkstatt des Vaters. Francisco musste sich einen eigenen Beruf und Broterwerb suchen. Mit 13 Jahren entschied er sich für eine Ausbildung als Maler bei José Luzán, der wie viele seiner Zeitgenossen die Akademisierung der Kunst in Spanien voranbringen wollte. Luzán ermöglichte Goya den Zugang zu einflussreichen Kreisen und Förderern der Künste und so lernte Goya auch Francisco Bayeu kennen, der ebenfalls eine Ausbildung bei Luzán machte und dessen Schwester Josefa 1773 Goyas Frau wurde. Im selben Jahr siedelte er nach Madrid über. Als Maler aus der Provinz musste er eine akademische Ausbildung anstreben und um am Hofe anerkannt zu werden, benötigte er Bürgen. Talent alleine reichte nicht, ohne Beziehungen war kein Fortkommen. Er war deshalb weiter als Kirchenmaler in der Provinz tätig und machte auch vor unfairen Mitteln nicht halt, um an Aufträge zu kommen. So schlug er seine Konkurrenz mit niedrigen Kostenvoranschlägen aus dem Feld, konnte dann aber die erwarteten Leistungen nicht erbringen. Er sparte an der Ausmalung der Figuren, was ihm den Unmut seiner Auftraggeber einbrachte. Die Tätigkeit als Maler in der königlichen Teppichmanufaktur schließlich eröffnete ihm den Weg zum spanischen Hof, er wurde Hofmaler, portraitierte die königliche Familie und wurde mit dem Gemälde eines Kruzifixes schließlich doch in die Akademie in Madrid aufgenommen. 1785 wurde er Professor mit der Verpflichtung, Schüler zu unterrichten. Obwohl er mehrfach für die unterschiedlichsten Positionen in der Akademie vorgeschlagen wurde, unterlag er stets seinen Mitbewerbern. Dennoch war er in den 1780er Jahren mit sich und seinem Leben durchaus zufrieden, das jedenfalls schrieb er einem Schulfreud aus Saragossa, dem er ein Leben lang verbunden blieb. In dieser Zeit versuchte er gar ein Leben als Höfling zu führen, kaufte sich ein Pferd und eine Kutsche. Doch schon die erste Ausfahrt endete mit einem Unfall.

Die Privilegien, die ihm die Aufnahme in der Akademie bescherten, führten unter anderem dazu, dass Goya sich nicht mehr um Aufträge bemühen musste, sie kamen endlich von selbst. Doch die Verunsicherungen durch die Französische Revolution machten auch vor Goya nicht Halt. Plötzlich war ihm die Anerkennung am Hofe nicht mehr so wichtig und er hielt Kunst nicht mehr für erlernbar. Inwieweit diese äußeren Umstände zu seiner schweren Krankheit 1793 beitrugen, kann man nur mutmaßen. Goya wurde taub, musste die Taubstummensprache erlernen und zog sich von allen Ämtern zurück. Die Erkrankung erschien wie eine Flucht, sie war der Ausweg aus seinem bis dahin so starken Drang nach Posten und Bedeutung. Er sympathisierte mit dem französischen Zeitgeist, machte sich in Radierungen über die ererbten Privilegien und das aristokratische Erbfolgeprinzip lustig. Er stellt aber auch die Laster und das Fehlverhalten der Menschen dar, die Dummheit des Volkes. Gleichzeitig forderte er die Abkehr von der akademischen Lehre, vom ästhetischen Idealbild hin zur Abbildung der ungeschönten Natur. Er arbeitete jetzt für den anonymen Markt. Seine Radierungen waren für die breite Masse gedacht und mussten von ihr verstanden werden. Seine Stierkampfbilder etwa waren einerseits Abbilder der spanischen Kultur, andererseits aber auch eine Anspielung auf den Kampf gegen den französischen Erzfeind, der vom Volk bekämpft wurde. Nach dem spanischen Aufstand schlug Goya sich auf die Seite der Volksmassen und machte die Grausamkeit des Krieges in weiteren Radierungen sichtbar. Mitten in dieser turbulenten Zeit starb seine Frau Josefa. Goya blieb nur der 1784 geborene Sohn Francisco Javier und der 1806 geborene Enkel Mariano. 1824 verließ Goya Spanien und ließ sich nach einem Kuraufenthalt mit seiner Lebensgefährtin Leocardia und deren Kinder ganz in Bordeaux nieder. Glücklich war er nicht, auch wenn er Klima, Essen und Unabhängigkeit sehr zu schätzen wusste. 1826 und 1827 reiste er nochmals nach Madrid, um seine Pensionierung durchzusetzen und seine Familienangelegenheiten zu regeln. 1828 kamen Schwiegertochter Gumersinda und Enkel Mariano zu Besuch nach Bordeaux. Ein Besuch, über den sich Goya sehr gefreut haben soll. Es war das letzte Mal, dass er seinen Enkel sehen sollte: Francisco Goya starb am 16. April 1828. In seinen letzten Skizzenbüchern hatte er die Themen Alter und Wahnsinn aufgegriffen. Seine Greise sind hilflose Riesen, wie er am Ende selbst einer war. /sis

Bildbeschreibungen: 1) Dem Krieg und seinen Gräueltaten widmete Goya eine ganze Serie von Zeichnungen. 2) Erst strebte Goya nach Anerkernnung in Adelskreisen, dann macht er sich über sie in den Caprichos (hier Blatt 39) lustig. 3) Auch dem Stierkampf widmete er eine Sammlung, Tauromaquia Nr. 11. 4) Furcht beherrschte Goyas Träume, das kam auch in seinen Zeichnungen zum Ausdruck. 5) Das Familienportrait Karls IV. hängt heute im Prado in Madrid. (alle Bilder frei).

Unterhaltsame Geschichte mit albernem Ende

Unterhaltsame Geschichte mit albernem Ende
Kritik zum Tatort Ludwigshafen “Maleficius”
ARD/SWR Tatort “Maleficius”: In der Autowerkstatt erhoffen sich Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter) Auskünfte über den verschwundenen Rollstuhlfahrer. (Foto: SWR/Sabine Hackenberg)
Zum zweiten Mal in kurzer Zeit sammeln Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter) Spuren am Rhein. Diesmal hat der Fluss die Leiche der Ärztin Marie Anzell (Jana Voosen) angeschwemmt. (Foto: SWR/Sabine Hackenberg)

„Maleficus“ kommt aus dem Lateinischen und heißt „bösartig, gottlos“ – und genau das sollte der neue Tatort aus Ludwigshafen dem Publikum wohl vorstellen, wie gottlos und bösartig Menschen sein können. Im konkreten Fall war es ein Wissenschaftler, der in Menschenversuchen eine Verbindung von Künstlicher Intelligenz und menschlichem Gehirn erprobte, dabei aber kläglich scheiterte. Denn das Ergebnis seiner Bemühungen, das dem Zuschauer am Ende des Films „Maleficius“ mit den Kommissarinnen Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter) vorgestellt wurde, war nicht mehr als ein äußerst lächerlicher Terminatorverschnitt, eine jämmerlich-wackelige Figur, die sich dank überdimensionierter Maschinenteile gerade mal so auf den Beinen halten konnte. Ob das den besonderen Humor dieses Tatorts unterstreichen sollte, darf bezweifelt werden. Es raubte der an sich guten Geschichte mit einem sehr interessanten, weil ethisch und moralisch äußerst umstrittenen Thema, die Glaubwürdigkeit. Es war ganz einfach albern, wie auch Professor Bordauer selbst, denn anders als man von einem ernsthaften Wissenschaftler mit Nobelpreis-Ambitionen erwarten sollte, präsentierte sich Sebastian Bezzel, ehedem Kai Perlmann im Konstanzer Tatort, schlicht als Witzfigur mit Dreitage-Bart im abgetragenen T-Shirt. Bezzel war hier definitiv die falsche Besetzung. Ihm und seiner eiskalten Assistentin standen am Ende nicht nur die Kommissarinnen gegenüber, sondern eine intellektuell minderbemittelte Gruppe passionierter Autoschrauber unter Führung von Ali Kaymaz (Gregor Bloéb), die mit schierer Muskelkraft den Professor und seine monströse Maschine zu Fall brachten. Herrlich! Wenig professionell aber verhielt sich die doch so diensterfahrene Lena Odenthal am Fundort der toten Ärztin: Sie zieht Handschuhe über, fasst sich dann an die Nase und greift anschließend nach der Hand der Leiche! Wieder der besondere Humor der Folge, oder Test der Aufmerksamkeit der Zuschauer? Oder doch einfach nur Oberflächlichkeit von Ulrike Folkerts und Regisseur Tom Bohn?

Unterhaltsam war dieser Tatort, daran besteht kein Zweifel. Die wissenschaftlichen Aspekte und vor allen Dingen den Professor hätte man sich seriöser gewünscht. Das Ende war leider völlig daneben. Dafür entschädigten aber die religiösen Anregungen, die der großartige Heinz Hoenig in der Rolle des Pfarrers Ellig den Zuschauern mit in die Nacht gab. Er verlangte mehr Demut vor der Schöpfung und kämpfte geschickt gegen den Teufel. Das brachte sogar die so taffe Lena Odenthal ins Grübeln. /sis

Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) will auf keinen Fall von Profesoor Bordauer (Sebastian Bezzel) und seiner Assistentin Malina (Dominique Chiout) beim Spionieren ertappt werden. (Foto: SWR/Sabine Hackenberg)

Auf der Jagd nach “Lachern”

Auf der Jagd nach “Lachern”
Kritik zum Tatort Frankfurt „Falscher Hase“
ARD/HR Tatort “Falscher Hase”: Paul Brix (Wolfram Koch, li.), Anna Janneke (Margarita Broich) und Staatsanwalt Bachmann (Werner Wölbern), der, wie die Kommissare auch, nichts zum Fortgang der Geschichte beizutragen hatte, sondern seinerseits mit merkwürdigem Humor auf der Jagd nach “Lachern” war. (Foto: HR)
Paul Brix (Wolfram Koch) ärgert sich über die vorlaute Kriminaltechnikerin (Eva Meckbach) (Foto: HR/Bettina Müller)

Wer sich auf einen spannenden Tatort-Abend aus Frankfurt gefreut hatte, wurde einmal mehr enttäuscht. Der „Falsche Hase“ mit den Kommissaren Paul Brix (Wolfram Koch) und Anna Janneke (Margarita Broich) entpuppte sich als völlig überzeichnete Komödie mit im Mittelmaß stecken gebliebenen Kleinganoven, die sich gegenseitig die Beute eines Versicherungsbetruges abjagen wollten und bis auf die Haupttäterin alle mit einem schönen runden Loch im Kopf endeten. Die ohne Zusammenhang zur Geschichte aufgezeigte Brutalität – einem nicht im geringsten in die Geschehnisse verstrickten Mitarbeiter einer Feinkostfirma wurde der kleine Finger abgehakt (tricktechnisch sehr gut gemacht) –  ließ sich genauso wenig nachvollziehen, wie die überraschenden Schlussfolgerungen der Kommissare, die eigentlich nur eine bedeutungslose Nebenrolle spielten und wenig zum Fortgang der Geschichte beitrugen. Sogar einen Zeitsprung in der Videoaufzeichnung entdeckten sie erst am Ende der Geschichte, schlossen dann aber messerscharf auf die richtige Täterin, Revolver-Biggi, eine ebenfalls in jeder Hinsicht mittelmäßige Unternehmergattin  (Katharina Marie Schubert) mit einem einzigen Talent: als ehemalige Schützenkönigin legte sie jeden mit einem gezielten Schuss zwischen die Augen um, der sich ihr und ihrem Mann Hajo (Peter Trabner) bei dem Versuch, die Versicherung zu betrügen, in den Weg stellte. Natürlich waren die Kommissare Biggis besonderem Talent nicht auf die Spur gekommen, wie es eigentlich im Zuge engagierter Ermittlung zu erwarten gewesen wäre, nein, sie ließen sich von ihrer kleinbürgerlichen Fassade und ihrem besonders leckeren „falschen Hasen“ täuschen. So taff  und unerbittlich Biggi im Laufe der Geschichte auch gewesen sein mag, zum Schluss gestand sie völlig ohne Not, bereitete damit aber der gähnenden Langeweile ein erlösendes Ende. Schon rein optisch war die Geschichte in den 80er Jahren stecken geblieben und die Kommissare überzeugten nicht etwa durch kluge Ermittlungsarbeit, sondern sie stolperten einfach über die Leichen, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen.

Wenn der Täter schon von Anfang an bekannt ist, dann sollte wenigstens eine spannende Jagd im Mittelpunkt eines Krimis stehen. Aber davon war der neue Tatort aus Frankfurt aus der Feder von Emily Atef, die auch Regie führte, und Lars Hubrich meilenweit entfernt. Schwarzer Humor ist ganz gewiss nicht verkehrt in einem guten Krimi, das beweisen britische Krimis mehr als eindrucksvoll. Nur Klamauk indes ist einfach zur wenig! Schade für die Schauspieler, schade für die gelangweilten Zuschauer und besonders schade für die Marke “Tatort”, die immer mehr zu einer beliebigen Filmreihe mutiert. Mit Wehmut denkt man an frühere Zeiten, als jeder Tatort noch für atemlose Spannung von der ersten bis zur letzten Minute sorgte – und der Humor dabei trotzdem nicht zu kurz kam. /sis

Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) beobachten und warten, viel mehr hatten sie in diesem Tatort auch nicht zu tun. (Foto: HR/Bettina Müller)

Viel zu viel Hass im Spiel

Viel zu viel Hass im Spiel
Kritik zum Polizeiruf 110 “Heimatliebe”
ARD/RBB Polizeiruf 110 “Heimatliebe”: Kriminalhauptkommissarin Olga Lenski (Maria Simon) und Kriminalhauptkommissar Adam Raczek (Lucas Gregorowicz) durchsuchen das Haus eines verdächtigen polnischen Geschäftsmannes. (Foto: RBB/Oliver Feist)

Eine merkwürdige Form von Heimatliebe zeigte der Polizeiruf 110 aus dem deutsch-polnischen Grenzbereich um Frankfurt (Oder): Auf der einen Seite rechtsradikale Polen, die Deutsche abgrundtief hassen und alles tun, um den Verkauf von ihrem Land an wen auch immer zu verhindern. Und auf der anderen Seite eine Handvoll Deutsche, die sich keinesfalls in die bundesdeutsche Ordnung und deren Ländergrenzen einfügen wollen. Wieder einmal wurden also Reichsbürger thematisiert, man kann es fast schon nicht mehr hören! Das alles wurde in einer äußerst deftigen Sprache vorgetragen, die polnisch nicht besser klingt als deutsch. An dieser Stelle fällt einem der Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein verbunden mit der allseits beklagten „hate speech“ – die ARD machts vor! Auch das gnadenlose Geballer am Ende der an sich klugen Geschichte spiegelte den Zeitgeist. Leider! Die Story aus der Feder des Regisseurs und Drehbuchautors Christian Bach wäre auch mit weniger Hass gut ausgekommen.

Harsche Worte fielen sogar zwischen den beiden Kriminalhauptkommissaren Olga Lenski (Maria Simon) und Adam Raczek (Lucas Gregorowicz), die die Ermittlungen dafür aber gemächlicher angingen, ja sogar eine gewisse Unlust an den Tag legten. Sie gipfelte in Lenskis Bemerkung mitten im finalen Kugelhagel „einfach nach Hause zu gehen“. Und dass, obwohl ein alter Bekannter Lenskis, Roland Seedow (Hanns Zischler), aufgetaucht war und offensichtlich mit Reichsbürger Bernd Emil Jaschke (Waldemar Kobus) sympathisierte. Dazu gab es noch die deutsche Jenny Sekula (Anna König), die den polnischen Hofbesitzer Wojciech Sekula (Grzegorz Stosz) übers Internet kennengelernt und geheiratet hatte und gleich nach dessen Ermordung recht skrupellos ihr Erbe einforderte. Zwischen all diesen Fronten versuchte Sekulas Sohn Tomasz (Joshio Marlon) seine „Heimat“ verzweifelt zu erhalten, die ihm der ehemalige Besitzer Seedow durch einen Strohmann streitig machte. Und darum ging es im Kern, die ehemals adlige Großgrundbesitzerin Helena von Seedow-Winterfeld (Gudrun Ritter), nach dem Krieg enteignet, wollte ihren Besitz zurück und dafür war ihr, respektive ihrem Sohn Roland Seedow, jedes Mittel recht. Wie gesagt, eine an sich kluge Geschichte, die aber im Wirrwarr der Personen und politisch und menschlich gravierend unterschiedlichen Sichtweisen einfach unterging. Und wieder wurden am Ende zwar die Verantwortlichen benannt. Wer von den Reichsbürgern genau den Brand gelegt und Wojciech Sekula brutal erschlagen hatte, blieb indes der Fantasie der Zuschauer überlassen. /sis

Olga Lenski (Maria Simon) und Kriminalhauptkommissar Adam Raczek (Lucas Gregorowicz, re.) sichern Spuren nach dem tödlichen Übergriff auf den polnischen Bauern Wojciech Sekula (Grzegorz Stosz, li.). (Foto: RBB/Oliver Feist)

Sie konnten zusammen nicht kommen

Sie konnten zusammen nicht kommen
Rezension Charlotte Link „Das andere Kind“

Charlotte Linke gilt als eine der besten deutschen Autoren – und das zu Recht. Ihr Stil ist flüssig, sie verzichtet auf ausschweifende Beschreibungen, konzentriert sich auf das Wesentliche ihre äußerst geschickt konstruierten Geschichten. Das mündet in einem wahren Leserausch. „Das andere Kind“ aus ihrer Feder mag man nicht aus der Hand legen. Es handelt sich dabei eigentlich nur in zweiter Linie um einen Kriminalroman, im Vordergrund steht die ungewöhnliche Lebensgeschichte von Fiona Barnes und Chad Beckett, die sich im Zuge der Landverschickung Londoner Kinder nach Yorkshire Ende 1940 in der rauen Küstenstadt Scarborough noch als Kinder kennen und lieben lernen und ein Leben lang nicht mehr von einander lassen können. Und dass, obwohl den beiden kein klassisches Happyend beschert ist, jeder einen anderen Partner heiratet und eigene Kinder bekommt. Was sie verbindet ist eine grausame Schuld, ein Vergehen an einem Kind, eben dem „anderen Kind“, wie der kleine Brian von Fiona und Chad genannt wird. Brian gerät mehr zufällig in das Geschehen, wird aber zum zentralen Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, die mit dem Mord an einer Studentin ihren Ausgang nimmt und in Fionas Ermordung gipfelt. Für die ehrgeizige Kommissarin Valerie Almond sieht es so aus, als ob die beiden Morde von ein- und demselben Täter begangen wurden. Nach und nach aber taucht sie, zusammen mit Dr. Leslie Cramer, Fionas Enkelin, immer tiefer in die Geschichte von Fiona und Chad ein, die ihre dunklen Schatten bis in die Gegenwart wirft, denn Fionas Mörder kennt plötzlich kein Halten mehr.

Das 672 Seiten umfassende Buch erzählt nicht nur die eigentliche Geschichte um den Mord der beiden Frauen, sondern wirft auch einen bemerkenswerten Blick auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges in London, den vom Überlebenskampf geprägten Alltag der Menschen und die Nachwirkungen, die das grausame Geschehen auf ihr Leben hatte. /sis

Bibliographische Angaben:
Charlotte Link: Das andere Kind
Verlag Blanvalet, Erstveröffentlichung 2009, Ausgabe 2019, 672 Seiten
ISBN 978-3-7341-0793-1

Kommissare auf Irrwegen

Kommissare auf Irrwegen
Kritik zum Tatort aus Dresden „Nemesis“
ARD/MDR Tatort “Nemesis”: Auf der Suche nach Nazarians Kreditkarte findet die Barkeeperin Lissy (Dena Abay) den ermordeten Joachim Benda in dessen Büro. Foto: MDR/W&B Television/Daniela Incoronato.
Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) haben den entscheidenden Beweis gefunden und sind auf dem Weg, um den Täter zu verhaften. Foto: MDR/W&B Television/Daniela Incoronato.

„Nemesis“ hieß der erste neue Tatort nach der Sommerpause mit dem ebenfalls noch neuen Dresdener Ermittlerduo Oberkommissarin Karin Gorniak (Karin Hanczweski) und Oberkommissarin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel). Und der Titel war Programm, denn die Gattin des Mordopfers, Katharina Benda (Britta Hammelstein), entpuppte sich als wahre „Rachegöttin“. Nur leider verwies eben dieser Titel auch schon von Anfang an auf die Hintergründe der Tat und das nahm der Geschichte aus der Feder der Drehbuchautoren Mark Monheim und Stephan Wagner, der zugleich Regie führte, viel der möglichen Spannung. Und so zogen sich die Ermittlungen doch etwas in die Länge, die die Kommissarinnen erst einmal auf einen Irrweg ins Mafia-Milieu mit klassischer Schutzgelderpressung und Geldwäsche führten. Leider wurden in diesem Zusammenhang auch gleich wieder die alten Klischees von verdienten Polizisten bedient, die früher gerne einmal ein Auge zugedrückt haben. So soll Leonie Winklers Vater Otto Winkler (Uwe Preuß) eben solchen Geldwäschegeschäften einfach zugeschaut haben, was natürlich der Tochter überhaupt nicht schmecken wollte. Auch Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (großartiger Martin Brambach) hatte mit „Befangenheit“ zu kämpfen, entpuppte er sich doch als guter Freund und Vertrauter des Opfers und dessen rachsüchtiger Ehefrau. Dass sowohl Leonie Winkler als auch Chef Schnabel von den Ermittlungen hätten ausgeschlossen werden müssen, sei nur am Rande erwähnt. Spätestens als die Ermittlungen nur noch in Richtung Ehefrau des Opfers und deren beiden Söhne Valentin (Caspar Hoffmann) und Viktor (Juri Sam Winkler) wiesen, wäre das Aus für Schnabel angezeigt gewesen. Doch er glaubte hartnäckig an die Unschuld seiner Freundin Katharina Benda und legte seinem Team einige Steine in den Weg, bis es beim dann endlich auch spannenden, wenn auch etwas übertriebenen Finale keinen Zweifel mehr an ihrer Schuld gab.

Nicht hinweg sehen kann man über die Tatsache, dass Oberkommissarin Gorniak an der Seite ihrer neuen Kollegin eigentlich nur noch die zweite Geige spielt, ja fast schon zur Nebenfigur degradiert wird. Schade, mit Leonie Winklers Vorgängerin Hennie Sieland (Alwara Höfels) gab es zwar gelegentliche Reibereien, aber sie arbeiteten doch zumindest auf Augenhöhe. Bleibt zu hoffen, dass sich in den nächsten Folgen aus Dresden das Niveau des neuen Ermittlerduos wieder angleicht. /sis

Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) und Peter Schnabel (Martin Brambach) koordinieren die Einsatzkräfte am Einsatzort. Schnabel beschreibt der Feuerwehr die Lage. Foto: MDR/W&B Television/Daniela Incoronato

Müder Auftakt in die Krimisaison

Müder Auftakt in die Krimisaison
Kritik zum Polizeiruf 110 Magdeburg – Mörderische Dorfgemeinschaft
ARD/MDR Polizeiruf 110 “Mörderische Dorfgemeinschaft”: Die Kollegen Lemp (Felix Vörtler), Brasch (Claudia Michelsen) und Köhler (Matthias Matschke) starren auf die Überreste einer Hand. Foto: MDR/filmpool fiction/Stefan Erhardt
Auf einer einsamen Waldlichtung wurde ein verlassenes Auto mit Unmengen an Blut im Kofferraum gefunden. Brasch (Claudia Michelsen) und Köhler (Matthias Matschke) inspizieren den Fundort. Foto: MDR/filmpool fiction/Stefan Erhardt

Wenn man während eines Krimis immer mal wieder kurz wegdämmert, dann ist das nicht unbedingt ein Zeichen für Spannung und Dynamik. Und so war denn auch der Auftakt in die neue ARD-Krimisaison mit dem Polizeiruf 110 „Mörderische Dorfgemeinschaft“ einfach nur langweilig. Daran änderten auch die recht unromantischen, harten Sexszenen nichts, die der Zuschauer über sich ergehen lassen musste. Hauptkommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen) und Hauptkommissar Dirk Köhler (Matthias Matschke) untersuchten einen Mord ohne Leiche in einem abgeschiedenen Dorf, dessen Bewohner, obwohl fast durchweg noch jüngeren Alters, irgendwo in grauer – oder besser gelber – Vergangenheit hängengeblieben waren. Ganz im Gegensatz zu Jurij Sergey Rehberg (Tambet Tuisk), der neu in diese skurrile Dorfgemeinschaft gekommen war und neben einem ausgeprägten Freiheitsdrang, was seine Liebschaften anbelangte, die Dorfbewohner auch geschickt auszunehmen wusste. Kein Mann zum Liebhaben – und so fand er auch ein grausiges Ende in diesem Dorf ohne hübsche Vorgärten und ganz ohne fröhlich spielende Kinder. Kein Ende fanden dagegen die Ermittlungen der beiden Magdeburger Hauptkommissare, die bis zum Schluss auch nicht den Hauch einer Ahnung hatten, wo denn nun die Leiche und wer als Jurijs Mörder zu verhaften war. Nur, dass das ganze Dorf dafür verantwortlich sein musste, war von Anfang an klar. Das verriet ja schon der Titel.

Selten hat man Doreen Brasch so unaufgeregt, fast schon gelangweilt gesehen. Bis auf eine Szene tat sie einfach ihre Arbeit, ohne laut zu werden, ohne anzuecken, ohne Konflikte mit Chef und Kollege Köhler. Eher seltsam mutete die Rolle von Matthias Matschke an, der das letzte Mal als Kommissar Köhler auf Mörderjagd ging. Auch sein Auftritt plätscherte so dahin, ohne große Höhepunkte, ohne würdigen Abschied. Schade, denn gerade er machte den Polizeiruf aus Magdeburg zu einer der besseren Krimis dieser Reihe. Man hätte ihm zum Ausstieg einen spektakulären Abgang gewünscht. /sis

Köhler (Matthias Matschke) befragt Werner (Hans-Uwe Bauer), dieser ist nicht gut auf Jurij zu sprechen. Seine Tochter Annette (Katharina Heyer) hört zu. Foto: MDR/filmpool fiction/Stefan Erhardt.

Den Erwartungen nicht gerecht geworden

Den Erwartungen nicht gerecht geworden
Rezension Dan Brown „Origin“

Wer sich ein Buch des amerikanischen Bestsellerautors Dan Brown aussucht, weiß in der Regel, was ihn erwartet: Viel religiös angehaucht Historisches verbunden mit spektakulären Erkenntnissen und natürlich eine gehörige Portion architektonisch Wissenswertes. In seinem neuesten Buch „Origin“ entführt Dan Brown seine Leser nach Spanien. Wieder spielt Religion eine wichtige Rolle, allerdings steht diesmal nicht die römisch-katholische Kirche im Mittelpunkt, sondern eine Abspaltung namens palmarianisch-katholische Kirche, die auf den ersten Blick für die Morde im Zusammenhang mit den spektakulären Enthüllungen des Zukunftsforschers Edmond Kirsch verantwortlich scheint. Kirsch will Antworten gefunden haben auf die elementaren Fragen der Menschheit „Wo kommen wir her?“ und „Wo gehen wir hin?“  Natürlich ist auch aller Leser Lieblingsprofessor Robert Langdon mit von der Partie, als Kirschs ehemaliger Lehrer und enger Freund spielt er eine zentrale Rolle in der von Kirsch geplanten Präsentation eben dieser Antworten im Guggenheim Museum in Bilbao. Kirsch wird von einem Anhänger der palmarianischen Kirche ermordet und Robert Langdon muss zusammen mit der Verlobten des spanischen Kronprinzen, Ambra Vidal – wie bei Bown üblich wieder eine junge, ausgesprochen hübsche und natürlich hoch intelligente Frau -, Edmond Kirschs Passwort entschlüsseln, um die Präsentation doch noch auszustrahlen. Die wilde Jagd geht von Bilbao nach Barcelona. Ganz nebenbei erfährt der Leser wieder viel über Barcelonas Sehenswürdigkeiten wie die Casa Milá und die Kathedrale Sagrada Familia des Stararchitekten Antonio Gaudi, außerdem reist er mit dem Kronprinzen Julián von Madrid in den Palast El Escorial und das Tal der Gefangenen mit dem gigantischen Franco-Mausoleum.

Interessant, gewiss, zumal wenn man nicht die Übersetzung benötigt, sondern das englische Original lesen kann. Trotzdem wird „Origin“ den Erwartungen nicht gerecht. So spektakulär sind Edmond Kirschs Enthüllungen am Ende nicht, als dass sie die daraus resultierenden, zum Teil wieder recht brutalen Reaktionen der beteiligten Figuren begründen könnten. Daran ändert auch der geniale Einfall mit der Künstlichen Intelligenz namens „Winston“ nichts, die nur ein Ziel kennt: Die Vorstellungen ihres Erfinders und „Herren“ Edmond Kirsch ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen. Ein bisschen viel Intelligenz für eine Maschine – nach Kirschs Erkenntnissen aber sind genau solche Maschinen die Zukunft, während die Menschheit untergeht. Da also “gehen wir hin”! /sis

Bibliographische Angaben
Dan Brown: “Origin”
Englisches Original, Random House, 2017, 480 Seiten
ISBN 0385514239

Für dumm verkauft?

Für dumm verkauft?
Rezension Vincent Kliesch/Sebastian Fitzek „Auris“

Hochgelobt wird der Thriller „Auris“ von Vincent Kliesch nach einer Idee von Sebastian Fitzek. Allerdings wird das 352 Seiten umfassende Buch diesen Vorschusslorbeeren nicht gerecht. Es ist in der Tat zwar eine äußert ungewöhnliche und auch sehr spannende Geschichte, deren Ende aber den Leser geradezu verhöhnt. So stellt Kliesch seiner Protagonistin Jula Ansorge bei der Suche nach dem Entführer ihres Halbbruders Elyas einen genialen Fallanalytiker an die Seite, der durch seine Fähigkeit, aus der Stimme eines Menschen seine Herkunft, sein Aussehen und die psychische Verfassung des möglichen Täters herauszulesen, für die Polizei schon viele Fälle gelöst hat. Nur sitzt dieser akustische Profiler namens Matthias Hegel, genannt “Auris” (lateinisch “das Ohr”), selbst wegen Mordes im Gefängnis – unschuldig. Das jedenfalls macht der Autor seinen Lesern weis bis zum Schluss. Dann nämlich stellen sich alle Bemühungen, den jungen Elyas aufzuspüren, als eine einzige Intrige heraus, die nur dazu dienen soll, Hegel selbst aus dem Gefängnis zu befreien. Hegel, der über 300 Seiten lang als absolut integer, ehrlich und zurückhaltend geschildert wird, entpuppt sich ohne jede Vorwarnung als Monster, das aus dem Gefängnis heraus das Geschehen um Elyas’ Entführung inszeniert haben soll – aber nur vielleicht. Ob das tatsächlich so ist, bleibt letztlich offen. Hegel bestreitet glaubwürdig jede Schuld, will aber aus den Drohanrufen die Stimmen seines besten Freundes und seiner Schwiegermutter nicht herausgehört haben. Der Leser nimmt dem Erzähler diese Wendung nicht ab. Sie wirkt unglaubwürdig und führt das gesamte Geschehen ad absurdum. Und dann taucht zu guter Letzt und ganz nebenbei auch noch Julas richtiger Bruder Moritz wieder auf, der sich zu Beginn der Geschichte bei einer gemeinsamen Reise in Argentinien das Leben genommen haben soll. Hegel will ihn aus dem Gefängnis heraus in einem Zeugenschutzprogramm, von dem zuvor nie die Rede war, aufgespürt haben. Was Moritz getan hat, um in dieses Schutzprogramm aufgenommen zu werden, bleibt genauso im Dunkeln wie die Frage, was das alles mit Julas Vergewaltigung in Argentinien zu tun haben soll. Ein einziges Chaos, aus dem der Autor mit fragwürdigen Erklärungen zu entkommen sucht. Schade!

Vincent Kliesch gibt in seiner seitenlangen Dankesrede am Ende des Buches an, drei Jahre an diesem Thriller gearbeitet zu haben. Man hätte ihm ein weiteres Jahr gegönnt, um vielleicht doch noch einen durchdachten, logischen Schluss für seine an sich packende Geschichte zu finden. So beschleicht den Leser am Ende nur das ungute Gefühl, für dumm verkauft worden zu sein. /sis

Bibliographische Angaben:
Vincent Kliesch/Sebastian Fitzek: „Auris“
Droemer Verlag, 2019, 352 Seiten
ISBN 978-3-426-30718-2

Giuseppe Verdi: Ein Jetset-Leben

Giuseppe Verdi: Ein Jetset-Leben
Giuseppe Verdi (1813 – 1901)

Wie die meisten großen Künstler war Giuseppe Verdi am Ende seines Lebens wirklich reich. Er besaß Ländereien, betrieb Ackerbau und Viehzucht im großen Stil, lebte im Frühjahr und Sommer in seiner Villa Sant’Agata in der Nähe von Busseto und verbrachte die Winter in Genua und Mailand. Ein Jetset-Leben würde man heute sagen. Aber dafür musste Verdi hart arbeiten. Am Ende seines Lebens hatte er neben geistlicher Musik, Kammermusik und Kantaten 32 Opern komponiert, darunter die weltberühmten Opern “Nabucco”, “Rigoletto” und “Aida”. Für Verdi stand stets die Bühnenwirksamkeit seiner Werke im Mittelpunkt. Er hatte eine Vorliebe für Shakespeare und kämpfte mit der von Kritikern erdachten Konkurrenz zu Richard Wagner.

Giuseppe Verdi lernte früh, welche Bedeutung Geld hat und strebte deshalb von Anfang an nach finanzieller Unabhängigkeit. Dabei begann seine Karriere alles andere als erfolgversprechend. Verdi wurde am 10. Oktober 1813 in Le Roncole in der Provinz Parma, damals zum französischen Kaiserreich gehörend, geboren. Der Vater, Carlo Verdi, war Gastwirt und Lebensmittelhändler, die Mutter, Luigia Uttino, stand in der Gaststube, wenn der Vater zum Einkauf von Waren unterwegs war. Zwei Jahre später kam seine Schwester Giuseppa zur Welt. Als Verdi vier Jahre alt war, lernte er beim Dorflehrer lesen und schreiben und bekam später seinen ersten Orgelunterricht, denn es war die Musik, die den eher schüchternen kleinen Jungen begeisterte. Damit war klar, Verdi sollte später Organist werden. Verdis Vater kaufte dem damals erst Siebenjährigen ein gebrauchtes Spinett, das Giuseppe bis an sein Lebensende in Ehren hielt. Obwohl Verdi also in relativem Wohlstand aufwuchs, dachte er später an seine Kindheit stets in Verbindung mit Armut zurück, doch war es eher die Abhängigkeit von anderen, die Verdi geprägt haben musste. Mit zehn Jahren wechselte er aufs Gymnasium nach Busseto, mit zwölf erhielt er beim Kapellmeister und Komponist Ferdinando Provesi Harmonielehre und Kompositionsunterricht. Von da an komponierte Verdi selbst und konnte mit dem Orchester der Philharmonischen Gesellschaft von Busseto seine Kompositionen auch gleich ausprobieren und aufführen. Proben und Konzerte fanden im Haus des Präsidenten der Gesellschaft statt, dem Kaufmann Antonio Barezzi, der Verdi 1831 bei sich aufnahm. Die beiden verband eine tiefe Freundschaft, die 38 Jahre hielt.

Provesi aber drängte Verdi zum Studium am Mailänder Konservatorium, doch Verdi bestand die Aufnahmeprüfung nicht, eine Niederlage, die er nie verwunden hat. Noch im Alter von 84 Jahren empörte er sich über das Konservatorium, sprach von einem „Anschlag auf seine Existenz“. Dennoch blieb Verdi in Mailand, nahm Unterricht bei einem Lehrer des Konservatoriums und lebte bei einem Bekannten Barezzis, der sich allerdings in Briefen fortgesetzt über Verdi beklagte. Verdi zog deshalb in ein anderes Zimmer in der Nähe der Scala, in der er als Zwanzigjähriger auch gleich einen ersten Erfolg feierte. Bei einer Probe von Haydns „Schöpfung“ vertrat er den erkrankten Cembalisten mit so viel Hingabe, dass man ihm gleich die Aufführung des Oratoriums übertrug. Obwohl Mailand mit seinen Konzerten und Maskenfesten den jungen Verdi sehr beeindruckte, kehrte er 1833 nach Busseto zurück, um dort die frei gewordene Stelle des Organisten und Kapellmeisters anzutreten, die aber der Bischof unter der Hand bereits anderweitig vergeben hatte. Verdi blieb in Busseto, arbeitete wieder mit den Philharmonikern zusammen und bekam 1836 schließlich die Stelle des städtischen Musikdirektors. Im selben Jahr heiratete er Barezzis Tochter Margherita, 1837 kam Tochter Virginia und ein Jahr später Sohn Icilio Romano zur Welt. Virginia starb 1838. Zu der Zeit unternahm Verdi allerlei Versuche, seine erste Oper zur Aufführung zu bringen. Da er in Busseto damit nicht weiterkam, zog er mit seiner Familie nach Mailand. Die Premiere 1839 war nicht gerade ein Triumpf, brachte ihm aber einen Auftrag für drei weitere Opern ein. Doch dann starb auch noch sein Sohn und 1840 seine Frau Margherita. Völlig verzweifelt kehrte Verdi nach Busseto zurück und vergrub sich lange Zeit im Hause seines Schwiegervaters. Mailand aber entließ ihn nicht aus dem Vertrag und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die angefangene Oper zu Ende zu komponieren. Die Premiere wurde ein Fiasko.

Durch Zufall fiel Verdi das Textbuch zu „Nabucco“ in die Hände. In den Versen fand er die polititschen Erfahrungen und Träume seines eigenen Volkes wieder, die ihn zu seiner weltberühmten Musik inspirierten. Mit der Premiere 1842 avancierte Verdi zum Star der Mailänder Oper. Schon 1844 konnte er ein Anwesen in Villanova sull’Arda, drei Kilometer nordwestlich von Busseto, mit Wiesen und Weingärten erwerben und ein Jahr später kaufte er sich den Palazzo Cavalli in Busseto. Denn endlich konnte Verdi seine Verträge selbst aushandeln und auch die Höhe seiner Honorare selbst bestimmen. Bis 1850 schrieb er zwölf weitere Opern. Die Arbeitsbelastung empfand er als enorm, zudem litt er unter Magenbeschwerden, Bronchitis und Rheuma. Dazu kam die Zensur des Staates über die Theater, vieles war verboten und mancher Schriftsteller, wie beispielsweise Victor Hugo, per se verdächtig. 1849 besuchte die Sängerin Giuseppe Strepponi Verdi in seiner Villa in Busseto, damals ein Skandal. 1851 zogen die beiden in das zur Villa Sant’Agata aufwendig umgebaute Gutshaus in Villanova sull’Arda. Verdi eignete sich Kenntnisse in Acker- und Weinbau an und kannte sich bald auch in der Rinder- und Pferdezucht bestens aus. Er entwickelte eine Leidenschaft für das Landleben, die ihn bis ans Lebensende begleitete. 1859 schließlich heiratete er Giuseppa Strepponi. 1860 musste er nach vier Jahren des Müßiggangs einen Auftrag aus St. Petersburg annehmen, er brauchte Geld, die Zukäufe von Land und der Umbau des Hauses hatten Unsummen verschlungen. 1864 war die Villa Sant’Agata aber zu einem Paradies geworden, großbürgerlich eingerichtet, mit Skulpturen und Bildern, die Verdi und seine Frau von ihren Reisen mitgebracht hatten, auch seltene Pflanzen waren dabei.

Frühjahr und Spätsommer verbrachte das Paar in Sant’Agata, wo Verdi rund 200 Land- und Bauarbeiter beschäftigte. Sie luden sich Gäste ein, die Verdi gelegentlich sogar selbst bekochte, sie spielten gerne Karten oder Billard. Im Hochsommer ging es zur Kur nach Tabiano, einmal im Jahr nach Mailand und recht häufig nach Paris. Nach einem Schwächeanfall 1886 konzentrierte sich Verdi ganz auf die Landwirtschaft, baute eine Meierei, um den Bewohnern der Umgebung Arbeit zu verschaffen und ließ sogar ein Krankenhaus erbauen. Doch ohne zu komponieren konnte Verdi auf Dauer nicht leben. So entstand “Otello”. Am Tag der Uraufführung 1887 waren schon zur Mittagszeit alle Straßen in Mailand verstopft und die Viva-Verdi-Rufe wollten kein Ende nehmen.

Im Mai 1889 begann er mit den Arbeiten zu seiner letzten Oper “Falstaff”. Nur war Verdi inzwischen von dem Gedanken besessen, die Arbeit nicht mehr beenden zu können. Tatsächlich erlitt er 1897 einen Schlaganfall und im November des gleichen Jahres starb seine zweite Ehefrau Giuseppa. Verdi schrieb sein Testament, in dem er viele soziale Einrichtungen bedachte. Am 21. Januar 1901 folgte der zweite Schlaganfall, am 27. Januar starb Verdi. Am 26. Februar 1901 wurden beide Särge in die Kapelle der Casa di Riposo, einem Altenheim für Sänger und Musiker, das Verdi gestiftet hatte, überführt. Über 300.000 Menschen reihten sich in den Trauerzug ein, um Abschied zu nehmen von dem Komponisten, der über 50 Jahre lang die Openwelt dominierte und noch heute begeisterte Anhänger hat. /sis

Bühnenbild zu “Rigoletto” (Foto: Bregenzer Festspiele)

Lesen Sie dazu auch: “Rigoletto” – ein schaurig schönes Meisterwerk

Buchempfehlung: Barbara Meier, Giuseppe Verdi, Rowohlt E-Book 2013, 154 Seiten, ISBN 978-3-6444969-10

 

Spannender Blick in die Überwachungszukunft

Spannender Blick in die Überwachungszukunft
Rezension Tom Hillenbrand „Drohnenland“

Wer den Zugriff auf die Daten hat, der hat die absolute Macht. Und um diese Macht zu erhalten, schrecken Menschen auch vor massenhaftem Mord nicht zurück. Das ist der Kern des futuristischen Thrillers „Drohnenland“ von Tom Hillenbrand, der 2014 veröffentlicht, mit dem Friedrich-Glauser-Preis als bester Kriminalroman ausgezeichnet wurde und inzwischen in der 12. Auflage erschienen ist.

In Hillenbrands Geschichte wird das Europa der Zukunft von den unterschiedlichsten Drohnen überwacht, die alles sehen, alles hören und alles aufzeichnen. Diese Aufzeichnungen kann man sich nicht nur anschauen, man sich auch direkt in sie hineinspiegeln lassen, erfährt die Situation quasi als unsichtbarer Geist direkt und hautnah mit. So jedenfalls löst Kriminalhauptkommissar Arthur van der Westerhuizen vorzugsweise seine Fälle in Brüssel. Keiner entkommt dieser allumfassenden Überwachung, ein Computer weiß jederzeit, wo wer ist und was er gerade tut, mehr noch, er kann sogar voraussagen, was der jeweilige Mensch in Zukunft tun wird, mit einer gewissen Schwankungstoleranz. Um diesen Zustand totaler Kontrolle abzusichern, haben sich Kommission, Polizei und Geheimdienst in einer neuen, in Kürze zur Abstimmung stehenden Verfassung umfangreiche Rechte festschreiben und durch den allwissenden Polizeicomputer Terry auch gleich die eventuellen Neinsager unter den Abgeordneten bestimmen lassen. Sie sind ein unkalkulierbares Risiko für die machtbesessenen Chefs der drei Institutionen und so stirbt ein potentieller Neinsager nach dem anderen unbemerkt eines mehr oder minder natürlichen Todes, bis Kommissar Westerhuizen und seine Datenanalystin Ava Bittman den Verschwörern auf die Spur kommen, selbstverständlich nicht ohne selbst in höchste Lebensgefahr zu geraten.

Tom Hillenbrand erzählt aus der „Ich-Perspektive“ des Kommissars in der Gegenwart, was anfangs ein wenig gewöhnungsbedürftig ist. Von der ersten bis zur letzten Seite begleitet der Leser den ungewöhnlichen Polizisten durch die spannende Geschichte, die durch diese Erzählweise aber naturgemäß sehr dialoglastig ist. Das stört nicht weiter, außer vielleicht, dass Westerhuizens Mitarbeiterin Ava nahezu jeden ihrer Sätze mit einem liebevollen „Aart“ enden lässt, wie sie den Kommissar nennt. Trotzdem ist das Buch uneingeschränkt beste Krimiunterhaltung, die einen Blick in eine Zukunft gewährt, die hoffentlich niemals kommen wird. /sis

Bibliographische Angaben:
Tom Hillenbrand: „Drohnenland“
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 423 Seiten, 12. Auflage 2019, ISBN978-3-462-04662-5

Von zäh zu spannend, aber viel zu unglaubwürdig

Von zäh zu spannend, aber viel zu unglaubwürdig
Rezension Sebastian Fitzek “Flugangst 7A”

Es sind schon recht gemischte Gefühle, die die Lektüre von Sebastian Fitzeks „Flugangst 7A“ hinterlässt. Anfangs findet man keinen rechten Zugang zur Geschichte und den handelnden Figuren. Immer wieder ist das Ende eines Kapitels auch das Ende der Lesezeit. In der Mitte schließlich wird es plötzlich ganz spannend, ein Buch, das man nicht aus der Hand legen mag. Und am Ende folgt die totale Übertreibung, die das Lesevergnügen doch sehr trübt. Jeder, wirklich jeder, der im Laufe der Geschichte aufgetauchten Figuren ist in irgendeiner Form in die Ereignisse verstrickt, es gibt keine „Guten“, nur komplett durchgeknallte Zeitgenossen, die vor keine Grausamkeit zurückschrecken. Das, und die Art und Weise, wie zur Auflösung ein Komatöser mit den Behörden kommuniziert, macht die gesamte Geschichte leider viel zu unglaubwürdig.

Der Psychiater Dr. Mats Krüger fliegt von Buenos Aires nach Berlin, um bei der Geburt seines Enkelkindes dabei zu sein. Krüger leidet unter extremer Flugangst, die erst wortreich beschrieben, dann aber urplötzlich nebensächlich wird, als er einen Anruf erhält mit der Nachricht, dass seine Tochter Nele entführt wurde und er sie nur retten kann, indem er eine der Flugbegleiterinnen, eine ehemalige Patientin, dazu bringt, das Flugzeug, in dem mit ihm weitere 600 Passagiere sitzen, abstürzen zu lassen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Krüger bittet seine Ex-Geliebte Feli, ebenfalls Psychiaterin, um Hilfe, die sich zusammen mit dem cleveren Kleinganoven Livio auf die Suche nach Nele macht. Krüger selbst versucht die Flugbegleiterin zu manipulieren, muss am Ende aber feststellen, dass er selbst manipuliert wurde. Er überlebt den Flug nicht, kann aber mit Hilfe eines Wunderarztes trotz „Locked-in-Syndrom“ der Polizei noch verraten, was er über den Entführer herausgefunden hat. Und dann macht Livio, der weit mehr Anteil am Geschehen hat, als zu Beginn zu vermuten wäre, einen entscheidenden, man könnte fast schon sagen, viel zu dummen Fehler, der zu Nele, dem Baby und Feli führt. Alle drei sind trotz der Höllenqualen, die sie erleiden mussten, wie durch ein Wunder unverletzt. Sie werden gerettet, alle anderen kommen um.

Blutrünstig geht es über die 380 Seiten zu, wobei die letzten 50 nur der Auflösung und Erläuterung vorbehalten sind. Streckenweise kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass so manche Wendung und Überraschung einfach nur Seiten füllen soll und deshalb vieles konstruiert und wenig ansprechend wirkt. Und zu guter Letzt hätte der Autor sicher ein glaubwürdigeres Ende finden können. Schade, denn die Geschichte an sich, ist sehr gut. Wie gesagt, es bleiben gemischte Gefühle! /sis

Bibliographische Daten
Sebastian Fitzek, Flugangst 7A
Knaur Taschenbuch, 2019, 400 Seiten
ISBN 978-3-426-51019-3

“Rigoletto” – ein schaurig schönes Meisterwerk

“Rigoletto” – ein schaurig schönes Meisterwerk
Das Bühnenbild der Bregenzer Festspiele 2019/2020 für Verdis Meisterwerk “Rigoletto”, entworfen von Regisseur Philipp Stölzl, der schon in Filmen wie “Der Medicus” für spektakuläre Szenen sorgte. (Foto: Bregenzer Festspiele/Andreas Beitler)

Sein Titelheld sei in seiner dramatischen Qualität eines Shakespeare würdig, soll Giuseppe Verdi über seinen „Rigoletto“ gesagt haben. Verdi bewunderte die englischen Dramatiker und soll wohl sogar darüber nachgedacht haben, die Geschichte des sagenumwobenen Königs Lear in eine Oper umzusetzen. Er entschied sich aber für Rigoletto, den Hofnarren des lüsternen Herzogs von Mantua und erzählt in seiner gleichnamigen Oper die tragische Geschichte von der Entführung und Ermordung von Rigolettos Tochter Gilda nach Victor Hugos Drama „Le Roi s’amuse“ von 1832. Weltweit bekannt ist die Arie „La donna è mobile“ (O wie so trügerisch sind Weiberherzen), die der Herzog von Mantua im dritten Akt singt.

In diesem und im kommenden Jahr ist Verdis schaurig schönes Meisterwerk in der Inszenierung von Philipp Stölzl auf der Seebühne in Bregenz zu sehen. Premiere war am 17. Juli und wie immer überrascht Bregenz mit einem ganz besonderen Bühnenbild, das im Übrigen auch von Philipp Stölzl stammt. Es zeigt einen über 13 Meter hohen und bis zu 11 Meter breiten Clownskopf und zwei überdimensionale Hände, die das zirkushafte Treiben am Hof des Herzogs symbolisieren.

Uraufgeführt wurde die Oper 1851 am Teatro La Fenice in Venedig. Das Libretto, also das Textbuch, stammt von Francesco Maria Piave, von 1844 bis 1860 Regisseur am Teatro La Fenice. Der Stoff hat von Anfang an für Diskussionen gesorgt. Hugos Theaterstück wurde nach der Uraufführung 1832 in Paris gar verboten. Verdis Oper wurde vom Publikum gefeiert, rief aber auch herbe Kritik hervor. Einige Zeitgenossen hielten die Geschichte für anstößig, fühlten sich von der buckeligen Titelfigur abgestoßen und empfanden den lasterhaften Herzog gar als Skandal.

„Rigoletto“ erzählt die Geschichte eines Krüppels und Narren, der gesellschaftliche Anerkennung sucht. Er will dazu gehören und überschüttet die Männer und Väter der Frauen, mit denen sich der Herzog von Mantua amüsiert, mit Hohn und Spott. Damit zieht er den Zorn seiner Mitmenschen auf sich und stürzt letztlich sich und seine Tochter Gilde ins Unglück. Die Geschichte beschreibt zugleich aber auch die unüberwindbare Kluft zwischen moralischem Anspruch der Gesellschaft und dem zügellosen Treiben eines ihrer hochrangigen Mitglieder, der sich an ein Bürgermädchen heranmacht. Kein Wunder, dass sich die selbstbewusste, bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts darüber empörte. Doch Ausgrenzung und nach Anerkennung buhlende Menschen gibt es heute wie damals. Und so ist Verdis „Rigoletto“ noch immer aktuell, ein Spiegelbild der menschlichen Gesellschaft mit all ihren Abgründen. /sis

Mehr zu den Festspielen und der Seebühne lesen Sie hier.

Mehr zu Verdi gibt es hier

Zufrieden mit Mittelmaß?

Zufrieden mit Mittelmaß?
Kritik zum Tatort Luzern „Ausgezählt“
ARD Degeto Tatort “Ausgezählt”: Livebild vom Entführungsopfer: Delia Mayer als Liz Ritschard und Stefan Gubser als Reto Flückiger im Polizeirevier. Auf dem Monitor sieht man Tabea Buser als die entführte Martina Oberholzer. (Foto: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler)
Verhaftung am Tatort: Der ehemalige Polizist Heinz Oberholzer (Peter Jecklin) lässt sich als Mörder verhaften. (Foto: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler)

Als Krimifan bekommt man leicht den Eindruck, die Tatort-Macher geben sich neuerdings mit Mittelmaß zufrieden. Der neueste und zugleich vorletzte Tatort aus Luzern mit dem Titel „Ausgezählt“ jedenfalls war wiederum allenfalls Mittelmaß, sowohl von der Story als auch von der Ausführung her. Von der wirklich nervig schlechten Synchronisation ganz zu schweigen.

Dabei war die zugrunde liegende Geschichte der Drehbuchautoren Urs Bühler und Michael Herzig gar nicht so schlecht, auch wenn das Thema alles andere als neu war. Die Folgen von Doping, der schnellere körperliche Zerfall und die damit gesunkenen Überlebenschancen im Extremfall wurden sauber herausgearbeitet. Dann aber gab es – vermutlich um die 90 Minuten Sendezeit zu füllen – einfach zu viel Geschehen drum herum. Die Urkundenfälschung von Liz Ritschard (Delia Mayer), die einen Fehlversuch einfach gut sichtbar in einem Papierkorb entsorgt, damit das Corpus delicti auch ja von Partner Reto Flückiger (Stefan Gubser) gefunden wird, das Hinterherspionieren von Flückiger und das Aufdecken einer alten Geschichte, die Ritschard in Verbindung bringt mit dem vermeintlich Tatverdächtigen Heinz Oberholzer (Peter Jecklin). Das alles hätte man sich getrost schenken können, trug es doch nichts zum aktuellen Fall und der Suche nach der in einen Bunker eingesperrten Profiboxerin Martina Oberholzer (Tabea Buser) bei.

Überhaupt suchten die Ermittler eher im Schneckentempo nach der Entführten und das, obwohl das Opfer schon in kurzer Zeit zu verdursten drohte. Flückiger und Ritschard standen sehr viel vor dem großen Bildschirm, der Bilder vom Opfer in all seiner Pein live und ununterbrochen übertrug. Sie überlegten, planten, hinterfragten, spekulierten – mit Füßen auf dem Schreibtisch oder Zahnbürste im Mund. Die Brisanz der Suche konnten weder die beiden Ermittler noch der Rest des Teams an die Zuschauer weitergeben. Und selbst die Gefängnisszenen gestalteten sich eher langatmig. Für einen Drogenboss, der sein gesamtes Geschäft zu verlieren droht, gab sich Pius Küng (Pit-Arne Pietz) doch eher desinteressiert bis gelangweilt, da halfen auch die Prügelszenen nichts. Spannung wollte nicht aufkommen, nicht einmal Empathie für das Entführungsopfer und wer der wahre Täter war, konnte jeder Zuschauer ohnehin von Anfang an erahnen. Alles in allem eben einfach nur Mittelmaß! /sis

Belastender Fund in der Wohnung des Vaters der Boxerin: Reto Flückiger, Liz Ritschard (r.) Gerichtsmedizinerin Corinna Haas (Fabien Hardorn) und Ferdi Oberholzer (Ingo Ospelt). (Foto: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler)

Das dramatische Ende entschädigt

Das dramatische Ende entschädigt
Kritik zum Tatort Köln „Kaputt“
ARD/WDR Tatort “Kaputt”: Als eine alltägliche Verkehrskontrolle aus dem Ruder läuft, greifen die Kommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt, l) und Freddy Schenk (Dietmar Bär, r) ein. (Foto: WDR/Thomas Kost)
Max Ballauf (Klaus J. Behrendt, vorne) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) müssen in den eigenen Reihen ermitteln. (WDR/Thomas Kost)

Das war kein leichter Stoff, den sich der erfahrene Drehbuchautor Rainer Butt für den neuen Tatort aus Köln vorgenommen hatte: Mord an einem Polizisten und im weiteren Verlauf Ermittlungen in den Reihen der Polizei. Neu war das Thema gewiss nicht, es wurde schon in unzähligen Varianten in ebenso unzähligen Krimis verarbeitet. Die etwas andere Perspektive aber kann trotzdem aus jedem bereits bekannten Stoff dennoch eine interessante Erzählung machen. Das gelang Butt nur in Teilen, zu viel war längst bekanntes Geschehen. Und wieder erlag der Drehbuchautor in diesem Tatort der Versuchung, die brutalen Mörder entschuldigen zu wollen, zumindest einem der drei jugendlichen Täter gab er ein handfestes Motiv für den Mord an dem Polizisten mit auf den Weg, alle drei präsentierte er als einfach nur „kaputte“ Junkies. Mitleid oder gar Empathie für die drei wollte dennoch in keiner Phase der Geschichte aufkommen. Als dann zwei der drei Täter ebenfalls ermordet wurden, begannen auch interne Ermittlungen. Das wiederum kam naturgemäß innerhalb der betroffenen Polizeidienststelle überhaupt nicht gut an, die Kollegen jedenfalls konnten kein Mitleid mit den drei Jugendlichen empfinden, dafür aber ein gewisses Verständnis für einen eventuellen Racheakt aus den eigenen Reihen aufbringen. Insbesondere Assistent Norbert Jütte (Roland Riebeling) tat sich hier hervor und bediente heftig jedes Klischee, das sich in diesem Zusammenhang finden lässt. Einzig Kommissar Max Ballauf (Klaus J. Behrend) wahrte die angemessene Neutralität und ließ sich nicht davon abhalten, unvoreingenommen nach den Tätern beider Verbrechen zu suchen. Selbst Partner Freddy Schenk (Dietmar Bär) neigte recht leichtfertig dazu, Verdächtige in den eigenen Reihen eher auszuschließen. Jütte fiel aber nicht nur durch seine vehemente Ablehnung eben dieser internen Ermittlungen auf. Vielmehr ging er in diesem Tatort erstmals mit viel Engagement einer anderen Betätigung als Essen nach: Er bewarb sich leidenschaftlich um einen Sitz im Personalrat. Dafür vergaß er dann seine sonst zur Schau getragene Trauer um den getöteten Kollegen. Von Arbeiten hielt er dafür wieder wenig bis nichts. Das war indes das einzig Erheiternde in diesem Tatort mit dem bezeichnenden Titel „Kaputt“.

So interessant die Geschichte auch klingen mag, in der Umsetzung durch Mitautorin und Regisseurin Christine Hartmann fehlte schlicht die Dynamik. Die Ermittlungen plätscherten dahin, viel zu viele Erkenntnisse waren dem Zufall geschuldet und die drei jugendlichen Täter machten für die grausame Tat, die sie im Drogenrausch begangen hatten, einen viel zu gleichgültigen Eindruck. Die fortgesetzte „Schwulenschelte“ durch den Leiter der Polizeidienststelle Bernd Schäfer (Götz Schubert) wirkte aufgesetzt und störte eigentlich nur den Ablauf des Geschehens. Und die Rachegelüste von Polizistin Melanie Sommer (Anne Brüggemann) standen im krassen Gegensatz zu dem Verhalten der Figur: Melanie Sommer stellte den ganzen Fall über ein bedauernswertes Mädchen dar, zeigte sich schüchtern und verloren, trauerte, weinte ununterbrochen und war nicht in der Lage, auch nur eine Frage der Kommissare vernünftig zu beantworten. So jemand geht nicht einfach los und knallt Täter ab. Das war doch eher unglaubwürdig. Das überaus dramatische Ende indes entschädigte die Zuschauer, die durchgehalten hatten, für derartige Nachlässigkeiten. Alles in allem war dieser Tatort zwar gefällige Unterhaltung, er hätte aber durchaus leicht besser sein können! /sis

Sie haben wirklich nichts zu verbergen?

Sie haben wirklich nichts zu verbergen?
Rezension Andreas Eschbach: NSA

Das ist schon ein in jeder Hinsicht ungewöhnlicher Roman, den Andreas Eschbach vorgelegt hat: Er verlegt eine düstere Zukunftsvision in eine noch düstere Vergangenheit und erzählt auf 796 Seiten nicht nur in der Hardcoverversion alles andere als eine “leichte” Kost. Dennoch verliert der Leser über die lange Distanz nie das Interesse an den beiden Hauptfiguren, Helene Bodenkamp und Eugen Lettke, deren Schicksal sie für eine kurze Zeit im „NSA“, dem „Nationalen Sicherheits-Amt“ in Weimar in der Zeit der Naziherrschaft zusammenführt. Dieses Sicherheitsamt hat nun eigentlich wenig mit Sicherheit zu tun, sondern ist eine mit modernster Technik ausgestattete Spionageeinrichtung. Und modernste Technik ist hier wörtlich zu nehmen, denn in Eschbachs Buch verfügen die Menschen in der Nazizeit bereits über Fernsehen, Mobilfunk und intelligente Informationstechnologie. Zwar heißt der Computer zeitgemäß Komputer, Serverfarmen sind Datensilos, Handys Volkstelephone, E-Mail Elektropost und das World Wide Web heißt Weltnetz. Auf den ersten Blick klingt das alles ungewöhnlich, tatsächlich aber schaffen die konsequent deutschen Begriffe einen wesentlich leichteren Zugang zu der sonst so schwer verständlichen Materie. Auch Social Media-Plattformen gibt es schon, in Form vom „Deutschen Forum“ und ausländischen Entsprechungen. Außerdem wurde Bargeld bereits abgeschafft und durch eine Geldkarte ersetzt. Jede finanzielle Transaktion wird aufgezeichnet. Termine beim Arzt, Eintrittskarten für Konzerte, Fahrkarten für die Bahn können nur noch elektronisch über das Telephon gebucht werden, von denen es ganz unterschiedliche Modelle gibt, vom einfachen Volkstelephon bis hin zu technischen Wunderwerken namhafter Hersteller. Das NSA hat Zugriff auf alle Daten, die dadurch jemals erzeugt wurden und täglich werden und es kann sie nutzen, um jeden einzelnen Bürger engmaschig zu überwachen, ungehemmt im Ausland zu spionieren, in fremde Netzwerke einzudringen und so etwa die Herstellung von Rüstungsgütern zu sabotieren. Das erledigen Analysten in enger Zusammenarbeit mit sogenannten „Programmstrickerinnen“. Letztere sind bezeichnender Weise ausschließlich Frauen, die Abfrageroutinen in Komputer-Programme umsetzen. Eugen Lettke ist Analyst, Helene Bodenkamp Programmstrickerin. Gemeinsam beeindrucken sie Reichsführer Heinrich Himmler durch das Aufspüren von in Amsterdam versteckten Juden, in dem sie die verbrauchten Kalorien eines Haushalts mit der Anzahl der in diesem Haushalt gemeldeten Personen in Beziehung setzen. Durch einen glücklichen Zufall gelingt es den beiden sogar, amerikanische Pläne zum Bau der Atombombe aufzuspüren und der Reichsführung zugänglich zu machen. Beide nutzen das System aber auch privat: Lettke, um hinter schmutzige Geheimnisse von Frauen zu kommen, die ihn in jungen Jahren einmal bloß gestellt haben. Mit diesem Wissen zwingt er sie zu sexuellen Gefälligkeiten. Helene ist durch ihre umfassenden Kenntnisse der Funktionsweise von Komputern sogar in der Lage, das System selbst zu manipulieren und so ihren bei Freunden versteckten Liebsten zu schützen, der desertiert ist und von einer Flucht nach Brasilien träumt.

Um es vorweg zu nehmen: Es gibt kein Happyend für Helene und Eugen, denn auch ihre gesamten Aktivitäten, beruflich wie privat, wurden aufgezeichnet. Das ist es auch, was der Autor seinen Lesern klar vor Augen führt: Alles, was über die modernen Kommunikationskanäle läuft, bleibt erhalten und kann irgendwann gegen einen verwendet werden. In „NSA“ gewinnen die Nazis den Zweiten Weltkrieg, weil sie über dieses gesammelte Wissen verfügen, das ihnen unumschränkte Macht einräumt. Eschbach macht deutlich, dass es keine unwichtigen Daten gibt und solch umfassendes Wissen über die Menschen und ihre Lebensgewohnheiten in den Händen eines totalitären Staates unweigerlich in die Katastrophe führt.

Fazit: Ein unbedingt lesenswertes Buch mit einer fesselnden Geschichte, die einen noch lange nach der Lektüre beschäftigt und zugleich die Datensammelwut unserer Tage in ein ganz anderes Licht rückt. /sis

Bibliographische Angaben:
Andreas Eschbach: NSA
Bastei Lübbe, 2018, 796 Seiten
ISBN 978-3-7857-2625-9

 

Kurzweilige Unterhaltung mit viel subtilem Humor

Kurzweilige Unterhaltung mit viel subtilem Humor
ARD Degeto Tatort “Glück allein”: Von links: Raoul Ladurner (Cornelius Obonya), Julia Soraperra (Gerti Drassl), Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer). (Foto: ARD Degeto/ORF/Hubert Mican)
Kritik zum Tatort Wien „Glück allein“
Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) ziehen einen rätselhaften Fall an sich. (Foto: ARD Degeto/ORF/Hubert Mican)

Es ist schon eine ganz besondere Beziehung, die die beiden Wiener Tatort-Ermittler Oberstleutnant Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Major Bibi Fellner (Adele Neuhauser) im Laufe von inzwischen über 20 Fällen entwickelt haben. Sie geben sich gerne als kaputte Charaktertypen, für die sowieso alles schon längst zu spät ist. Und genau so ermitteln sie mittlerweile auch, kompromisslos, ohne Rücksicht auf Verluste und sehr gerne gegen alle Anweisungen von oben. Ihr Chef, Oberst Ernst „Ernstl“ Rauter (Hubert Kramar), hat dadurch oft genug seine liebe Mühe, die beiden BKA-Ermittler vor dem Unmut höherer Stellen zu bewahren. Denn nicht selten geht es in den Fällen aus Wien um politische Scharmützel, um Korruption und Filz bis in die höchsten Kreise der österreichischen Politik. So auch in ihrem neuesten Fall mit dem Titel „Glück allein“, in dem der Parlamentarier Raoul Ladurner (Cornelius Obonya) die verbrecherischen Machenschaften der ukrainischen Geschäftsfrau Natalia Petrenko (Dorka Gryllus) als Leiter eines Untersuchungsausschusses ans Licht der Öffentlichkeit bringen will. Doch dann liegen seine Frau und Tochter tot in ihrem Haus. Moritz Eisner und Bibi Fellner möchten gerne ermitteln, dürfen es aber erst einmal wieder nicht. Der Innenminister persönlich will, dass die Kollegin Julia Soraperra (Gerti Drassl) den Fall übernimmt und die findet nur allzu schnell einen Verdächtigen, einen Einbrecher, der bei seinem Raubzug von Ladurners Frau und der erst zehnjährigen Tochter überrascht worden ist und  die beiden dann in Panik erstochen haben soll. Ladurner selbst beschuldigt natürlich die ukrainische Geschäftsfrau. Als der Verdächtige, auch ein Ukrainer, schließlich selbst tot in seiner Zelle liegt, lassen Eisner und Fellner sich nicht mehr aufhalten und schnell führt ihre Spur zu Ladurner, der sich als alles andere als ein aufklärerischer Saubermann und unbescholtener Politiker und Familienvater entpuppt.

Die Geschichte von Drehbuchautor Uli Brée ist nicht ganz einfach zu durchschauen und durch den in dieser Folge recht breiten Dialekt zumindest für den bundesdeutschen Zuschauer nicht an jeder Stelle auf Anhieb zu verstehen. Und am Ende bleiben auch einige entscheidende Fragen offen, etwa warum Ladurner seine Tochter rauschgiftsüchtig gemacht hat. Dazu hat der von Catalina Molina in Szene gesetzte Tatort aus dem schönen Wien noch einige Längen. Dennoch handelt es sich um einen fantasievollen Krimi mit starken Charakteren gespielt von überzeugenden Darstellern. Insgesamt bietet der Streifen kurzweilige Unterhaltung mit einigen überraschenden Wendungen und viel subtilem Humor. Durchaus sehenswert und im Vergleich zu den letzten Tatort-Folgen eine echte Freude für Tatort-Fans. /sis

Das Wiener Ermittler-Duo Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) setzt sich gerne einmal über Anweisungen auch von ganz oben hinweg. (Foto: ARD Degeto/ORF/Hubert Mican)

Eine herbe Enttäuschung

Eine herbe Enttäuschung
ARD/BR Tatort “Die ewige Welle”: Die Kriminalhauptkommissare Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Ivo Batic (Miroslav Nemec) sind bei ihren Ermittlungen an der Eisbach-Welle nicht immer einer Meinung. (Foto:  BR/Hendrik Heiden/Wiedemann & Berg)
Kritik zum Tatort München „Die ewige Welle“

Es ist ein Fehler anzunehmen, irgendeine Geschichte könnte unter der „Marke“ Tatort zu einem Publikumsliebling avancieren. Auch dann nicht, wenn man das bei Tatort-Fans sehr beliebte Münchener Kommissars-Duo Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) bemüht. „Die ewige Welle“ jedenfalls mag als Experimentalfilm oder auch Milieustudie vielleicht ein paar interessierte Zuschauer gefunden haben, bei den Tatort-Freunden fiel die Folge gnadenlos durch. Und das zu Recht, hatte der Streifen aus der Feder von Alex Buresch und Matthias Pacht doch mit einem Krimi so gar nichts zu tun. Außer, dass die Kommissare ein paar in ihrer ganz eigenen Drogenwelt gefangenen, skurrilen Figuren mehr oder minder interessiert hinterhergejagt sind, spielten Batic und Leitmayr in diesem mühsam konstruierten Fall überhaupt keine Rolle und selbst Kalli (Ferdinand Hofer) tauchte nur das ein oder andere Mal bei den Hauptkommissaren auf und übermittelte Informationen, die auch nichts zur Entwicklung der Geschichte beitrugen. Ansonsten war Batic mit Rückenschmerzen und Chillen und Leitmayr mit Erinnerungen beschäftigt. Franz Leitmayrs Vergangenheit lieferte denn auch den einzigen Bezug zu einem der Beteiligten und musste als Motiv dafür herhalten, dass Leitmayr seinen nach einer Messerstecherei schwer verletzten Freund Mikesch Seifert (Andreas Lust) weiter in aller Ruhe seinen Drogengeschäften nachgehen ließ. Dann tauchte auch noch eine gemeinsame Freundin aus der Vergangenheit auf, die möglicherweise, könnte sein, vielleicht von Leitmayr schwanger war, in einer anderen Zeit und in einer anderen Welt. In loser Folge eingespielte Szenen aus dieser anderen Welt mit dem jungen Leitmayr hatten ebenfalls keinen Bezug zur aktuellen Geschichte um Mikeschs Drogengeschäfte, sondern erzählten einfach nur von einem Sommer an Portugals Küste in jugendlicher Unbekümmertheit. Und das alles hatte wiederum nichts mit den Surfern an der Eisbach-Welle zu tun. Letztlich wollte Leitmayrs Freund Mikesch durch den Verkauf von Schmerzpflastern einfach nur ein besseres Leben für seine Tochter Maya (Luise Aschenbrenner). Die Messerattacke auf ihn, die beiden Drogentoten, die Bedrohung durch andere Drogendealer, die bei ihren Geschäften nicht gestört werden wollten, all das war nur Beiwerk, um dem Stoff doch noch einen Hauch von Krimi zu geben, vielleicht auch nur, um ihn damit überhaupt erst als Tatort realisieren zu können. Und dennoch war die Geschichte als Tatort ein Totalausfall, als Tatort aus München gar eine herbe Enttäuschung. Wieder einmal! /sis

Raus aus der Wohlfühlblase!

Raus aus der Wohlfühlblase!
Rezension Daniel Stelter „Das Märchen vom reichen Land – Wie uns die Politik ruiniert!“

Es ist für einen Laien nicht immer ganz leicht, Daniel Stelters wirtschafts- und finanzwissenschaftliche Ausführungen nachzuvollziehen. Letztlich aber versteht auch der Nichtfachmann sehr gut, worum es in dem Buch geht und was der Autor vermitteln will, dass uns nämlich die Politik der vergangenen Jahre langfristig noch teuer zu stehen kommen dürfte. Zu viele Verpflichtungen wurden eingegangen, die zwar erst in der Zukunft zum Tragen kommen, dann aber auf eine vergreiste Gesellschaft treffen, deren wenige Leistungsträger eben diese Lasten unter den gegenwärtigen Umständen nicht werden stemmen können. Daniel Stelter beschreibt recht anschaulich, wie düster unsere Zukunft aussehen könnte: Eine Gesellschaft von Rentnern, die über kein nennenswertes Vermögen verfügt, eine schlechte Infrastruktur, weil nicht in Straßen, Brücken und Schulen investiert wird, Unternehmen, denen qualifizierte Mitarbeiter fehlen, weil eben auch die Bildung kaputt gespart und statt qualifizierte Mitarbeiter aus dem Ausland anzuwerben auf die massenhafte Zuwanderung unqualifizierter Migranten gesetzt wird, die zum größten Teil ihr Leben lang auf Transferleistungen angewiesen sein werden. Noch können wir gegensteuern, meint der Autor. Doch dazu bräuchte es einen kompletten Neuanfang – und zwar ohne unsere heutigen Politiker, die eher auf die nächsten Wahlen und ihre eigenen Posten schielen, als sich um die Zukunft des Landes zu scheren.

Unseren Politikern stellt Daniel Stelter denn auch ein ganz schlechtes Zeugnis aus und deckt in seinem 256 Seiten starken Buch eine Reihe von Problemfeldern auf, die durch falsche Entscheidungen hervorgerufen wurden. Das fängt bei der nicht vorhandenen Unterscheidung zwischen Einkommen und Vermögen an. Zwar verfügten die Deutschen über ein hohes Einkommen, wovon der Staat sich aber zu viel nehme. Nur wenig bleibe zum Sparen übrig und dann würden Geldanlagen präferiert, die wenig Rendite bringen. Auch hier habe die Politik die Finger im Spiel, weil sie eben solche Anlageformen fördere, die nicht zuletzt der bequemen Geldbeschaffung für den Staat dienten. Obendrein bevorzuge der Deutsche sichere Geldanlagen wie Sparbuch und Lebensversicherung. Keine gute Idee in Zeiten niedriger Zinsen. Und so verwundert es nicht, dass etwa Griechen und Italiener über mehr privates Vermögen verfügen als der Durchschnittsdeutsche.

Die niedrigen Zinsen seien auch der Grund für die von unseren Politikern so leidenschaftlich geforderte „schwarze Null“, die nicht etwa der Finanzminister durch eisernes Sparen zustande gebracht hätte. Und noch eine Aussage überrascht: Ohne Einführung der Währungsunion hätte es die große Schuldenparty im Süden Europas gar nicht gegeben. Überhaupt sei die weltweite Gesamtverschuldung seit 2008 drastisch gestiegen. Dass es da keine gute Idee ist, in dieser Welt als Gläubiger aufzutreten, versteht sich von selbst. Aber genau das tue Deutschland mit seinen hohen Exportüberschüssen. Wir liefern Waren nicht etwa gegen Bares, sondern als Kredite in Länder, die ohnehin hoch verschuldet sind. Irgendwann werde eine Reduzierung der Schulden unumgänglich sein und dann seien es die Deutschen, die verlieren. So wie auch die Deutschen die Verlierer der Eurokrise sein werden. Mit den Rettungsschirmen sei nicht etwa Griechenland gerettet worden, sondern französische Banken, die als private Kreditgeber sonst viel Geld in Griechenland verloren hätten. In diesem Licht seien auch die Forderungen des französischen Präsidenten mit Blick auf die EU mit Vorsicht zu betrachten.

Eigentlich erfreulich klingen Stelters Ausführungen mit Blick auf die Digitalisierung. Sicher fallen durch die fortschreitende Automatisierung viele Arbeitsstellen weg. Sie würden aber auch nicht mehr benötigt, wenn durch den demografischen Wandel eben auch weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stünden! Deshalb müsse investiert werden in Bildung, Forschung und Entwicklung. Doch Deutschland konzentriere sich stur darauf, Bestehendes zu erhalten und zu optimieren.

Mein Fazit: Auch wer wenig oder nichts von Wirtschafts- und Finanzpolitik versteht, bekommt mit diesem Buch ein Gespür für die komplexen Zusammenhänge und ihre Auswirkungen auf unser aller Zukunft. Der Autor begnügt sich aber nicht mit dem Aufzählen und Analysieren des Ist-Zustandes und Offenlegen der Hintergründe, er präsentiert auch ganz konkrete Lösungsansätze, die er am besten in einem Bündnis für Zukunft und Nachhaltigkeit aufgehoben sieht, mit dem Ziel, die Leistungsfähigkeit Deutschlands zu steigern, die Lasten gerechter zu verteilen und Altlasten zu bereinigen. /sis

Bibliographische Angaben:
Daniel Stelter: „Das Märchen vom reichen Land – Wie uns die Politik ruiniert!“
Finanzbuch Verlag, 2018, 256 Seiten, ISBN 978-3-95972-153-0

Ohne Punkt und ohne Komma!

Ohne Punkt und ohne Komma!
ARD/SWR Tatort “Anne und der Tod”: Die junge Hausärztin Maxi Scheller (Julia Schäfle) schaut ganz genau hin – ob ihr Verdacht nach dem Tod von Paul Fuchs (Harry Täschner) berechtigt ist oder nicht, müssen Sebastian Bootz (Felix Klare, li.) und Thorsten Lannert (Richy Müller) herausfinden. (Foto: SWR/Maor Waisburd)
Kritik zum Tatort Stuttgart “Anne und der Tod”
Anne Werner (Katharina Marie Schubert) ist Altenpflegerin und arbeitet in der häuslichen Pflege. Als zwei ihrer Patienten eines ungeklärten Todes sterben, wird sie von Sebastian Bootz und Thorsten Lannert als mögliche Täterin befragt. (Foto: SWR/Maor Waisburd)

Was war das wieder für ein Tatort? Mit Krimi hatte die Geschichte nichts zu tun. Von Spannung und überraschenden Wendungen keine Spur, stattdessen wurde geredet, ohne Punkt und ohne Komma! Dabei war bis zum bitteren Ende nicht klar, ob es sich bei den beiden Todesfällen tatsächlich um Morde handelte, die den Einsatz der Kriminalpolizei rechtfertigten. Der zentrale Verhörmarathon mit eingeblendeten, zeitlich völlig losgelösten Szenen, in denen auch wieder nur zu viel und dann auch noch in viel zu breitem Dialekt gesprochen wurde, war von Wiederholungen der immer gleichen Annahmen geprägt und damit nicht nur langatmig, sondern schlicht und ergreifend langweilig. Der allseits bekannte und beklagte Pflegenotstand wurde indes fast ausschließlich auf sexuelle Übergriffe heruntergebrochen, die Altenpflegerin als alleinerziehende Mutter präsentiert, die bei der Erziehung ihres Sohnes versagt hatte und, um den übertriebenen Ansprüchen ihres Sprösslings gerecht werden, bereit war alles zu tun, auch sich zu prostituieren. Dem Pflegeberuf hat dieser Tatort mit der einseitigen Fixierung auf die sexuellen Bedürfnisse der zu Pflegenden keinen Gefallen getan und den ohnehin physisch und psychisch überbeanspruchten Pflegekräften ganz gewiss auch nicht.

An der misslungenen Geschichte aus der Feder von Drehbuchautor Wolfgang Stauch in der wirren Umsetzung von Regisseur Jens Wischnewski konnten auch die  Stuttgarter Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare), sonst Garanten für spannende Tatort-Unterhaltung, nichts ändern. Auch sie hatten in „Anne und der Tod“ nichts weiter zu tun, als zu reden, die vermeintlich verdächtige Altenpflegerin Anne Werner (Katharina Marie Schubert) letztlich dazu zu überreden, zu gestehen – was genau, war nicht klar. Und die Altenpflegerin spielte ohne zu murren mit, beschrieb freimütig die immer gleichen Ereignisse in einer jeweils anderen Version. Was nun wirklich passiert war, blieb im Dunkeln. Jedenfalls gestand sie am Ende, was die Kommissare hatten hören wollen und die glaubten ihr plötzlich, obwohl Anne Werner im Verlaufe der Geschichte so viel gelogen hatte, dass man ihr eigentlich gar nichts mehr glauben konnte. Immerhin hatte die Verdächtige zwei Telefonjoker, die hätte man dem Zuschauer auch gewünscht! /sis  

Sebastian Bootz (Felix Klare) und Thorsten Lannert (Richy Müller) wollen sicher gehen, dass beim Tod zweier alter, pflegebedürftiger Männer nicht nachgeholfen wurde. (Foto: SWR/Maor Waisburd)

Einfach nur schwach!

Einfach nur schwach!
Kritik zum Tatort „Das Monster von Kassel“
ARD/HR Tatort “Das Monster von Kassel”: Gerichtsmedizinerin (Barbara Stollhans, li.), Constanze Lauritzer (Christina Große) und Paul Brix (Wolfram Koch) begutachten einen Plastiksack mit Leichenteilen. (Foto: HR/Degeto/Bettina Müller)
Paul Brix (Wolfram Koch), Anna Janneke (Margarita Broich, Mitte) und ihre Kasseler Kollegin Constanze Lauritzen (Christina Große) geben den Stand der Ermittlungen nach Frankfurt durch. (Foto: HR/Degeto)

Der Titel “Das Monster von Kassel” ließ auf den ersten Blick vermuten, dass der neue Tatort aus Frankfurt mit dem Ermittlerduo Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) erneut einen Ausflug in die Welt der Psychopathen unternehmen würde. Doch es ging diesmal nur nach hessisch-Sibirien, ins nordhessische Kassel. Und der Täter Maarten Jansen (Barry Atsma), der sich selbst als Monster von Kassel bezeichnete, war auch nichts weiter als ein alberner Profilneurotiker. Als Talkmaster mit eigener Fernsehshow war er um Quote bemüht, nahm die Ermordung seines Stiefsohnes als willkommene Gelegenheit, sich als armes Opfer zu inszenieren und legte eine Oscar reife Trauerrede an sein Publikum hin. Und das, obwohl er selbst die Gräueltat begangen, mit einer Axt die Leiche zerstückelt und in Plastiksäcken verpackt so abgestellt hatte, dass sie auf jeden Fall gefunden wurde. Ziel der umständlichen Aktion war es, die Tat einem anderen Täter mit ähnlichem Tathergang unterzuschieben. All das war dem Zuschauer von Anfang an bekannt, was dem Fall komplett die Spannung raubte. Da half es auch nicht, dass das Verhör des Täters in einzelnen Etappen eingestreut wurde. Den Ermittlern dabei zuzuschauen, wie sie einen dem Zuschauer längst bekannten Täter suchen, ist nun einmal wenig erquicklich. Da bedarf es schon richtiger Überraschungen. Die aber fehlten in der Geschichte der Drehbuchautoren Stephan Brüggenthies und Andrea Heller, die mit dem smarten Promi lediglich ein Klischee bedienten. Nicht einmal das Motiv für den Mord war stark genug. Jansens Stiefsohn war ihm hinter seine Verhältnisse mit zahlreichen Frauen gekommen, die sich mehr oder minder freiwillig auf seine Sexspielchen eingelassen hatte, darunter eine Nachbarstochter und Freundin seines Stiefsohnes. Nur musste der Täter gar nicht mit Konsequenzen rechnen, die einen Mord mit dieser bestialischen Leichenbeseitigung begründet hätten. Die Frauen schwiegen oder litten stumm. Und selbst wenn das Stiefsöhnchen seine Mutter und Ehefrau des Täters eingeweiht hätte, wäre allenfalls seine Ehe gefährdet gewesen, nicht aber sein Leben auf der Überholspur. Am Ende konnte das selbsternannte Monster nicht einmal überführt werden, lagen doch einfach keine handfesten Beweise gegen ihn vor.

Eine schlüssige Geschichte spannend erzählt benötigt keine langatmigen Erläuterungen, etwa welche Zahnbürstenfarbe wer in der Familie bevorzugt oder einen Kommissariatsleiter, der seine Leute mit poetischen Lebensweisheiten beglückt oder sie als Tanzpartner bemüht. Etliche Szenen waren schlicht überflüssig und hätten getrost gestrichen werden können, wie am besten gleich der ganze Film! /sis

Constanze Lauritzen (Christina Große, li.), Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) finden die Zunge des Mordopfers. (Foto: HR/Degeto)

Nicht so spektakulär wie “Blackout”

Nicht so spektakulär wie “Blackout”
Rezension Marc Elsberg: Gier – Wie weit würdest du gehen?

Der mathematischen Formel für Wohlstand für die gesamte Menschheit ist Bestseller-Autor Marc Elsberg in seinem neuen Roman „Gier – Wie weit würdest du gehen?“ auf der Spur. Mitunter nicht immer auf Anhieb nachvollziehbar, handelt es sich doch um einen gelungenen Thriller, der es sehr gut versteht, Empathie für die Protagonisten zu erzeugen. So geht der Leser mit dem ungleichen Paar Jan Wutte und Fitzroy Peel, ein Pfleger und ein Spieler, auf die Jagd nach dem Geheimnis des ermordeten Nobelpreisträgers und seines Co-Autors, die die Formel entwickelt haben und sie auf dem Gipfeltreffen der Reichen und Mächtigen in Berlin öffentlich machen wollten. Dabei geraten Jan und Fitzroy ein ums andere Mal in höchste Lebensgefahr, denn sowohl die Killer als auch eine Polizistin sind ihnen immer dicht auf den Fersen. Wir lernen mit ihnen eine Gruppe junger Studenten kennen, die für eine bessere Welt demonstrieren, wir tauchen ein in die Welt der Superreichen und erleben ihre grenzenlose Gier nach noch mehr Geld und Macht. Jan und Fitzroy ziehen zusammen mit der attraktiven Investmentbankerin Jeanne Dalli aus den wenigen Informationen, die sie durch ihre gefährliche Recherche über die Arbeit des Nobelpreisträgers erlangen konnten, die richtigen Schlüsse. Am Ende können sie die Formel für grenzenlosen Wohlstand entschlüsseln und schaffen es sogar, die versammelte Wirtschafts- und Politelite beim Berliner Gipfeltreffen zumindest zum Nachdenken zu bewegen. Und wie lautet die Formel nun? Nicht überraschend ist sie einfach und uralt: „Teilen“ bringt langfristig mehr für alle, getreu dem Kern der christlichen Lehre “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”.

Es dauert eine Weile, bis man sich an Elsbergs Schrumpfsätze gewöhnt. Wenn man sich aber erst einmal in die Geschichte vertieft hat, mag man das Buch nicht mehr aus den Händen legen, auch wenn es sich am Ende nicht als ganz so spektakulär entpuppt wie die Vorgänger aus der Feder von Marc Elsberg, allen voran natürlich „Blackout“. /sis

Bibliographische Angaben
Marc Elsberg: Gier – Wie weit würdest du gehen?
Blanvalet Verlag, 2019, 448 Seiten, ISBN 978-3-7645-0632-2

Erneuter Ausflug in die Welt der Psychopathen

Erneuter Ausflug in die Welt der Psychopathen
Kritik zum Tatort Berlin „Der gute Weg“
ARD/rbb Tatort “Der gute Weg”: Nina Rubins (Meret Becker) Sohn Tolja (Jonas Hämmerle) wurde bei einem Einsatz der Streife angeschossen, traumatisiert sitzt der Praktikant mit seiner Mutter und dem ermittelnden Kommissar Karow (Mark Waschke) im Notarztwagen. (Foto: rbb/Stefan Erhard)

Auf einem guten Weg war Streifenpolizist Harald Stracke (Peter Trabner) gewiss nicht, sah er doch die Lösung seines Problems in der Ermordung seiner blutjungen Kollegin Sandra und später auch noch des beauftragten Killers, der Drogendealer und zugleich V-Mann Yakut Yavas (Raunand Taleb), der im Gegenzug „sein“ Problem mit einem Cousin zeitgleich von Stracke lösen ließ. Eine Win-Winn-Situation also. Dumm nur, dass bei diesem sorgfältig geplanten Mörderstelldichein unverhofft ein Praktikant ins Spiel kam, ein ehemaliger Drogenabnehmer Yakuts: Tolja Rubin (Jonas Hämmerle), der Sohn von Kommissarin Nina Rubin (Meret Becker). Klingt das schon ziemlich konstruiert, kam es im Verlaufe der Geschichte noch dicker, jedenfalls war es nicht leicht, die in der Vergangenheit liegenden Verwicklungen zu durchschauen.

Rubin (Meret Becker) und Karow (Mark Waschke) studieren die Akten zum Fall.
(Foto: rbb/Oliver Vaccaro).

Letztlich ging es Stracke aber nur darum, seine Frau Verena (Nina Vorbrodt) nicht zu enttäuschen. Ein erneuter Ausflug des Tatorts in die Welt der Psychopathen also, den Drehbuchautor Christoph Darnstädt hier mit seinem Publikum unternahm. Im Kern nachvollziehbar war die Handlung der Geschichte, aber an vielen Stellen blieb sie flach und unglaubwürdig. So kann eine von einem Fall persönlich betroffene Kommissarin nicht ermitteln. Warum das zurecht so ist, machte das gelegentlich schon grenzwertige Verhalten Nina Rubins mehr als deutlich. Als Mutter hatte sie ausschließlich die Interessen ihres Sohnes im Sinn, ermittelte also nicht mehr ergebnisoffen und in alle Richtungen. Es war leider viel zu früh erkennbar, dass sie diesen Fall am Ende mit der Waffe lösen würde. Zwar bemühte sich Rubins Partner Robert Karow (Mark Waschke) um eine gewisse Neutralität. Doch der war diesmal mehr mit seinem Liebesleben als mit seiner Arbeit beschäftigt. Er kam etwas lustlos daher, wirkte wenig engagiert, fast schon desinteressiert. Auch blieben viele Fragen offen, etwa wieso der Praktikant als einziger eine kugelsichere Weste trug? Wieso Stracke just mit dem Drogendealer, der den Tod seines eignen Sohnes verursacht hatte, eine Verabredung zum Doppelmord getroffen hatte? Warum Stracke am Ende auch noch seine Frau ermordete und warum er ausgerechnet Nina Rubin dazu bringen musste, ihn zu erschießen? Das hätte er schließlich auch selbst tun können. Dazu präsentierten die Macher dieses Tatorts aus Berlin dem Zuschauer ein Bild der bundesdeutschen Hauptstadt, das einen erschaudern ließ. Es war das Bild einer Stadt, in der die Polizei offensichtlich aufgegeben hat gegen das Verbrechen zu kämpfen, eine Stadt, in der an jeder Ecke Menschen aus aller Herren Länder ganz offen ihre Drogengeschäfte abwickeln, ein Heer von merkwürdigen Gestalten, denen man ungern im Dunkeln begegnen möchte. Doch genau dazu passte dann dieser desillusionierte Streifenpolizist Harald Stracke, der letztlich weder mit sich selbst, noch mit seinen Opfern, ja am Ende nicht einmal mit seiner Frau, für die er all die Morde begangen hatte, Mitgefühl aufbringen konnte. /sis

Nina Rubin (Meret Becker) kommt aufgelöst und voller Sorge um ihren Sohn Tolja am Tatort an. (Foto: rbb/Stefan Erhard)

Tizian – meisterliches Spiel mit Farben, Licht und Schatten

Tizian – meisterliches Spiel mit Farben, Licht und Schatten
Bildnis der Clarice Strozzi, 1542, Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie (Foto: bpk / Gemäldegalerie, SMB / Christoph Schmidt)

Das Städel Museum in Frankfurt widmete sich im Mai 2019 in einer groß angelegten Sonderausstellung „Tizian und die Renaissance in Venedig“ mit über 100 Meisterwerken der venezianischen Malerei der Renaissance, darunter mehr als 20 Arbeiten Tizians, die umfangreichste Werkauswahl, die in Deutschland je zu sehen war.

Tizian, der eigentlich Tiziano Vecellio hieß, sorgte schon zu seinen Lebzeiten (1488-90 bis 1576) für Schlagzeilen. Er war ein gewiefter Geschäftsmann, der Einnahmen und Ausgaben sorgfältig notierte, stets auf der Suche nach neuen Aufträgen war, dabei sichere Einnahmequellen spektakulären vorzog und dafür gerne auch seine weniger erfahrenen Schüler einsetzte, was ihm oft genug auch schadete. Er machte selbst vor unlauterem Wettbewerb nicht halt, wenn es darum ging, einen unliebsamen Konkurrenten aus dem Rennen zu werfen. Wenn Tizian einen Auftrag erhielt, etwa für Freskenmalerei an Gebäuden oder Porträts bekannter Persönlichkeiten seiner Zeit, dann konnte es schon einmal ein paar Jahre dauern, bis das Werk fertiggestellt war, es sei denn, der Auftraggeber ließ sich zu üppigen Sonderzahlungen überreden. Tizian hatte den Vorteil, dass er in der Blütezeit der italienischen Renaissance tätig war. Es gab unzählige Künstler, wovon die große Masse nicht über Mittelmaß hinaus kam, während Tizian ein Meister seines Fachs war, ausgebildet in der renommierten Werkstatt der Gebrüder Bellini, gefördert von seiner Familie und später von Karl V. und dessen Sohn Philipp II. Als er im Alter von 86 Jahren vermutlich an der Pest starb, war er der erfolgreichste Maler Venedigs.

Wie alt Tizian wirklich geworden ist, darüber gehen die Meinungen der Historiker weit auseinander. Ein Vetter dritten Grades datierte Tizians Geburtsjahr auf 1477 (nachzulesen in Joseph A. Crowe, Leben und Werk, aus dem Jahre 1877). Tizian selbst behauptete 1571 in einem Schreiben an den spanischen König Philippe von sich, er sei ein armer alter Mann von 95 Jahren. Allerdings hat die Wissenschaft etliche Ungereimtheiten ausgemacht, manche Ereignisse in Tizians Leben wollen nicht so recht zu diesem Geburtsjahr passen. Heute vermutet man deshalb Tizians Geburtdatum zwischen 1488 und 1490. Geboren wurde er in der alpenländischen Dorfidylle von Pieve di Cadore, eine 878 Meter über dem Meeresspiegel thronende Ortschaft in der Nähe der Belluneser Dolomiten, rund eineinhalb Stunden von Venedig entfernt. Schon früh erkannte die Familie Tizians Talent – er soll eine Madonna mit Blumensaft an eine Hauswand gemalt haben, die die gesamte Nachbarschaft in helle Aufregung versetzte – und schickte ihn zu einem Onkel nach Venedig. Seine Ausbildung begann bei einem Mosaikarbeiter, später folgten Lehrjahre in der Werkstatt der berühmten Brüder Bellini.

Bildnis des Dogen Francesco Venier, 1554 – 56, Madrid, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza (Foto: Museo Nacional Thyssen-Bornemisza. Madrid)

Von Anfang an hatte Tizian keine Probleme von anderen Künstlern das anzunehmen, was er als gut empfand. Und er war einer der ersten Künstler, der seine Arbeiten signierte. Er ist nicht nur einer der bekanntesten Künstler der venezianischen Malerei, sondern auch einer der vielfältigsten. Er malte Porträts, Landschaften, wählte sowohl mythologische als auch religiöse Themen und brachte es am Ende seines Lebens auf 646 Werke. Dabei hielt er gerne an den Formen weiblicher Schönheit fest, die er mit nur wenigen Abweichungen stets wiederholte. Charakteristisch für Tizian ist die Farbenvielfalt mit der er aufs meisterlichste umzugehen wusste. So verstand er es wie kein anderer, nahezu durchsichtige Kleiderstoffe zu malen. Sie sind so zart, dass die Haut der Trägerin darunter durchschimmert. Obendrein war er ein begnadeter Zeichner, der nicht mit Griffel oder Stift, sondern mit dem Pinsel zeichnete. Dabei machte er das Studium der Natur zur Grundlage seiner Arbeit. Anfang 1500 gab es einen Stilwandel, weg von der antiken Kunst hin zur Nachahmung der Stoffe und deren Farbenspiel. Tizian experimentierte mit Licht und Schatten und wetteiferte zum Beispiel mit Albrecht Dürer um Perfektion. Der goldrote Farbton, mit dem Tizian gerne die weiblichen Haare darstellte, wird noch heute „tizianrot“ genannt.

Nur ungern verließ der Künstler Venedig, das trotz der Wirren zahlreicher Scharmützel und Kriege seine wirtschaftliche und kulturelle Blüte erlebte. Kein Wunder also, dass Tizian es vorzog, lieber für den Dogen von Venedig zu arbeiten statt für Papst Leo X. Bis 1531 wohnte er mitten in der Stadt am Canale Grande, mietete sich dann in eine Villa im nordöstlichen Stadtteil ein, die er 1559 mit samt dem großzügigen Anwesen kaufte. Dort gab er Gesellschaften im großen Stil und nahm gerne Lob für die von ihm verschönerten Gärten an der Wasserseite entgegen.

Als Tizian am 27. August 1576 starb, war er reich und berühmt und hatte Kinder und Enkel, die in nächster Nähe wohnten. Sein Leben lang hatte er versucht, seine Angelegenheiten vorausschauend zu regeln, aber am Ende war er mit seiner Familie heillos zerstritten. Mit seinem Sohn Pomponio kommunizierte er nur noch über Anwälte. Nach seinem Tod wurde sein Haus geplündert, und seine Nachkommen führten jahrelang einen erbitterten Streit um seinen Nachlass. /sis

Madonna mit Kind, der heiligen Katharina sowie einem Hirten, (Die Madonna mit dem Kaninchen), um 1530, Paris, Musée du Louvre, Département des Peintures (Foto: bpk / RMN – Grand Palais / Michèle Bellot)

Psychothriller mit hohem Gruselfaktor

Psychothriller mit hohem Gruselfaktor
Kritik zum Tatort Dresden „Das Nest“
ARD/MDR Tatort “Das Nest”: Das neue Dresdner Tatort-Team v.l.: Karin Gorniak (Karin Hanczewski), Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) und Leonie “Leo” Winkler (Cornelia Gröschel), (Foto: MDR/Wiedemann und Berg/Daniela Incoronato)

Logisch geht es nicht zu in diesem Tatort aus Dresden mit dem Titel „Das Nest“ aus der Feder des erst kürzlich mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Drehbuchautors Erol Yesilkava. Gleich zum Auftakt passiert ein schwerer Unfall und die offenbar unverletzte Fahrerin läuft einfach weg, mitten in der Nacht auf einer Straße im Nirgendwo. Sie marschiert zufällig genau in das verlassene Hotel, in dem eine Anzahl präparierter Leichen als fröhliche Gästerunde drapiert ist. Menschen, die offenbar niemand vermisst in einer Umgebung, die nicht so leicht zu finden ist! Gleich anschließend versucht die Polizei den Mörder zu stellen, indem sie Oberkommissarin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) als neue und völlig unerfahrene Kollegin an der Seite von Oberkommissarin Karin Gorniak (Karin Hanczewski) ganz allein in besagtem Hotel auf den Massenmörder warten lässt. Gorniak wird bei dieser Aktion von dem Täter mit einem Messer schwer verletzt, das SEK schaut untätig zu und Kollegin Winkler wird statt suspendiert auch noch hoch gelobt. Damit nicht genug, zwei Monate nach diesen Ereignissen wird einem potenziell Verdächtigen das Messer mit dem Blut von Gorniak untergeschoben, zwei Monate, in denen der wahre Täter Christian Mertens (Benjamin Sadler), ein intelligenter Chirurg, besagte Tatwaffe nicht etwa gereinigt und entsorgt, sondern schlicht in einer Plastiktüte verpackt samt Blut aufbewahrt hat. Wozu? In einer weiteren Szene trägt eben dieser Christian Mertens seine bereits erwachsene, schwer übergewichtige Tochter wie ein Fliegengewicht quer durchs Haus und auch seine Frau Nadine (Anja Schneider) kommt nicht auf die Idee, dass es mit ihrem wiederholt plötzlichen Tiefschlaf nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Und zu guter Letzt hat der Täter für all den Irrsinn nur eine Erklärung: Er will töten, das ist seine Natur. Komisch nur, dass er nicht schon früher aufgefallen ist. Ein schlüssiges Motiv fehlt ebenso wie die Erläuterung, warum er die Leichen konserviert und zur Schau stellt. Für wen?

Mit Logik hatte dieser Tatort also absolut gar nichts zu tun, dafür aber viel mit Psychoterror. Der Massenmörder kannte keine Gnade und machte aus seinen Mordgelüsten keinen Hehl. Auch die neue Kollegin legte leicht profilneurotische Züge an den Tag, war mehr darauf bedacht, ihrem Chef Peter Schnabel (Martin Brambach) und dem ehrgeizigen Vater Otto Winkler (Uwe Preuss) zu gefallen, statt ihrer Partnerin beizustehen. Und selbst Karin Gorniak war am Ende so von Hass und Abscheu erfüllt, dass sie den Täter am liebsten abgeschlachtet hätte. Kein Krimi also, sondern ein astreiner Psychothriller, der mit einem hohen Gruselfaktor die fehlende Spannung aber mehr als wett machte. Es bleibt zu hoffen, dass die „Neue“ sich noch ins Dresdner Team einfindet und nicht der Zickenkrieg zwischen Winkler und Gorniak künftig den Tatort aus Dresden bestimmt.  

Ganz nebenbei kann „Das Nest“ aber wunderbar als Lehrstück für angehende Drehbuchautoren dienen, enthält dieser Tatort doch den kompletten Bauplan für einen gelungenen Film. Sämtliche Wendepunkte sitzen genau da, wo sie zu sitzen haben, der Höhepunkt in der Mitte wird schön herausgearbeitet mit der Enttarnung des Täters und von da an geht es lehrbuchmäßig bergab bis zum unvermeidlichen Showdown am Ende. So klar erkennbar sind die einzelnen Bestandteile, aus denen ein Film gestrickt wird, nur sehr selten. /sis

Karin Gorniak ist voller Hass und Abscheu für den Täter. Das Ende des Films bleibt offen, ob Gorniak und ihre neue Partnerin Leonie Winkler den gestellten Massenmörder aus Notwehr erschießen oder ihn doch gezielt hinrichten. (Foto: MDR/Wiedemann und Berg)

Wer durchhält, wird belohnt

Wer durchhält, wird belohnt
Rezension “Operation Rubikon” von Andreas Pflüger

Man braucht schon etwas Geduld, bis man sich in den Thriller „Operation Rubikon“ aus der Feder des bekannten Drehbuchautors Andreas Pflüger eingelesen hat. Zu viele Figuren sind im Spiel, deren jeweilige Lebensgeschichte ein wenig zu breit erzählt wird. Zu viele Schauplätze mit zum Teil schwierigen ausländischen Namen erschweren den Durchblick. Und nicht zuletzt eine Flut von Abkürzungen machen es dem Leser nicht leicht, sich in der Vielzahl von staatlichen Behörden zurecht zu finden, die gegen organisierte Kriminalität mit all ihren Auswüchsen wie Geldwäsche, Korruption, Erpressung und Mord, antreten. Am Ende des fast 800 Seiten umfassenden Wälzers findet sich zwar ein Abkürzungsverzeichnis, allerdings macht es das Lesen nicht zu einem Vergnügen, wenn man ständig nachschauen muss, was denn gleich noch mal „ST“ bedeutet. Und so quält man sich förmlich durch die ersten 400 Seiten, blättert zurück, sucht Zusammenhänge, fängt ganze Kapitel immer wieder von vorne an, natürlich in der Hoffnung, dass noch etwas Überraschendes kommt. Zu oft wechselt der Autor die Perspektive, die zum Ausdruck gebrachte Brisanz einzelner Situationen vermittelt sich dem Leser zu häufig nicht. Und dennoch wird der Leser nicht enttäuscht, denn die restlichen 400 Seiten sind aller Mühe wert. In der zweiten Hälfte des Buches gelingt es dem Autor dann doch noch, eine emotionale Bindung zwischen seinen Figuren und dem Leser herzustellen, die es möglich macht, mit den Protagonisten zu leiden und zu hoffen, dass am Ende doch noch alles gut ausgeht. Das Ende allerdings ist nach fast 800 Seiten Beschreibungen bis ins kleinste Detail etwas zu knapp geraten.

Die Geschichte rankt sich um die bei der Bundesanwaltschaft tätige junge Staatsanwältin Sophie Wolf, die mit ihrem ersten richtigen Fall in einen Strudel internationaler organisierter Kriminalität gezogen wird, die bis in höchste Regierungskreise reicht. Dabei trifft sie auf ihren Vater, den mächtigen und allseits verehrten Präsidenten des Bundeskriminalamtes Richard Wolf. Das Verhältnis der beiden ist denkbar schlecht. Als dann aber Sophies Spezialeinsatz, bei dem illegale Waffengeschäfte gestoppt werden sollen, in einem wahren Desaster endet, hält Vater Richard seine schützende Hand über sie. Gemeinsam kämpfen sie gegen ein neues Kartell, das den internationalen Waffen- und Drogenmarkt erobern will. Der Chef des Kartells schafft es dabei bis in die Spitze der Bundesregierung und es gelingt ihm, alle wichtigen Schaltstellen der Verbrechensbekämpfung mit seinen Leuten zu infiltrieren. BKA-Präsident Wolf gründet die geheime Gruppe Rubikon, in der eine handvoll vertrauenswürdige Mitarbeiter zusammen mit Sophie gegen den skrupellosen Verbrecher und seine Schergen antreten.

Das Buch „Operation Rubikon“ erschien 2004 im Herbig Verlag und wurde 2016 vom Suhrkamp Verlag neu aufgelegt. Andreas Pflüger arbeitete fünf Jahre an diesem Buch und er schrieb auch das Drehbuch zum gleichnamigen Film.

Biographische Angaben
Andreas Pflüger: Operation Rubikon
Suhrkamp Taschenbuch, 2016, 798 Seiten
ISBN: 978-3-518-46740-4

Dramatischer Abgang in Bremen

Dramatischer Abgang in Bremen
Kritik zum Tatort Bremen „Wo ist nur mein Schatz geblieben“
ARD/RB Tatort “Wo ist nur mein Schatz geblieben”: Durch Zufall entdecken Bauarbeiter die unter einer Straße verborgene Leiche einer Frau. Bei den Mordermittlungen stechen die Bremer Ermittler Inga Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreund (Oliver Mommsen) in ein feingewebtes Netz aus Korruption und illegalen Geldgeschäften. Nach einem heimlichen Treffen mit den BKA-Kollegen stellt Inga Lürsen Kollege Stedefreund zur Rede. (Foto: Radio Bremen/ARD Degeto/Christine Schroeder)

 

Die BKA-Ermittlerin Linda Selb (links Luise Wolfram) wird von  Inga Lürsen ins Vertrauen gezogen. (Foto: Radio Bremen/ARD Degeto/Christine Schroeder)

Zugegeben, etwas konstruiert war Nils Stedefreunds (Oliver Mommsen) Abgang im letzten Tatort aus Bremen schon. Zum einen blieb das Motiv für den grenzenlosen Hass des BKA-Mannes Wolfgang Kempf (Philipp Hochmair) auf Stedefreund doch zumindest fragwürdig. Jedenfalls war aus dem aktuellen Geschehen nicht erkennbar, warum er am Ende wie wild auf Stedefreund geballert hat – auch der exzessive Rauschgiftmissbrauch kann nicht als hinreichende Begründung dienen. Zum anderen fragt man sich schon, warum ein Heer von bis an die Zähne bewaffnete SEK-Mannen das Feuer nicht erwidert haben. Aber ansonsten war die Geschichte mit dem Titel „Wo ist nur mein Schatz gebliebenen“ von den Drehbuchautoren Florian Baxmeyer, Michael Comtesse und Stefanie Veith gut durchdacht und geschickt aufgebaut auf Stedefreunds angeblichem Afghanistan-Aufenthalt im Jahre 2013, der sich jetzt als verdeckter Ermittlereinsatz entpuppte, bei dem Stedefreund zwei Menschen in blinder Wut erschossen haben soll. Klar, Polizist konnte er nach der Enthüllung nicht mehr bleiben. Auch sein übertriebenes Verständnis für den in diesem Fall als verdeckter Ermittler agierenden Roger Stahl (Kostja Ullmann) erklärt sich aus den Erlebnissen. Warum er aber seiner Partnerin Inga Lürsen (Sabine Postel) und seiner Ex-Freundin Linda Selb (Luise Wolfram) die Wahrheit so lange schuldig blieb und die Ermittlungen im aktuellen Mordfall störrisch behinderte, war nur schwer verständlich. Stattdessen ließ er sich lieber mit den beiden dubiosen – und wie sich herausstellte wieder einmal korrupten – BKA-Beamten ein und deckte deren Machenschaften bis es nicht mehr ging. Der Nils Stedefreund, den die Zuschauer bis zu diesem letzten Fall kannten, hätte das ganz gewiss nicht getan.

Trotz der offenen Fragen war der letzte Tatort aus Bremen ein durchgängig spannender Krimi mit immer neuen Überraschungen und einem dramatischen Ende. Die Autoren spielten geschickt mit den Gefühlen der Zuschauer, die sich sicher einen anderen Abgang für die beiden Ermittler Inga Lürsen und Nils Stedefreund aus Bremen gewünscht hätten. Es ist schade, dass der Tatort mit Sabine Postel und Oliver Mommsen zwei Klasseschauspieler verliert, die über viele Jahre stets Garant für zufriedene Zuschauer – und damit natürlich auch gute Quoten waren. /sis

Ein gutes Team bis zum Schluss: Die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreund (Oliver Mommsen). (Foto: Radio Bremen/ARD Degeto/Christine Schroeder)

Düstere Aussichten für die Menschheit

Düstere Aussichten für die Menschheit
Rezension Dirk Müller: „Machtbeben – Die Welt vor der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten. Hintergründe, Risiken, Chancen“

Es ist schon eine düstere Vision, die der Finanz- und Wirtschaftsexperte Dirk Müller in seinem Buch „Machtbeben“ für die Zukunft der Welt zeichnet. Automatisierung und Digitalisierung werden fast 60 Prozent der Arbeitsplätze vernichten und gewiss nicht so viele neue schaffen. Doch sieht er auch eine Chance in der rasanten technischen Entwicklung, Unternehmer müssen ihre Betriebe nicht mehr in Länder verlegen, in denen es billige Arbeitsplätze gibt. Im Gegenteil, künftig wird echtes Fachwissen gefordert sein und die Produktion genau dort stattfinden, wo die Produkte verkauft werden, vor Ort nämlich. Denn nicht mehr der Lohn, sondern Transportkosten und Liefergeschwindigkeit bestimmen den Standort. Vorausgesetzt, ja vorausgesetzt die vielen Pulverfässer, die Müller rund um den Globus ausmacht, gehen nicht hoch.

Und Pulverfässer gibt es viele, zum Beispiel neue Probleme auf dem amerikanischen Finanzmarkt. Waren es 2008 geplatzte Immobilienkredite, die die weltweite Finanzkrise auslösten, so könnten es jetzt ohne Grenzen vergebene Kredite an Studenten und für Autos sein. Wieder wurden diese Kredite ohne Risiko für die ausgebende Bank verbrieft und weltweit gestreut. Man hat zwar aus den Fehlern 2008 gelernt, aber eben nichts geändert, so Müllers Fazit. Den USA ist es dabei auch egal, wie andere Länder mit solchen Problemen umgehen, denn die Vereinigten Staaten von Amerika können gar nicht pleite gehen. Werden ihnen ihre Dollar-Anleihen zur Zahlung vorgelegt, druckt die FED so viel Geld wie gebraucht wird. Fertig. Die eigene Notenbank macht es möglich. Andere Länder können das nicht und die USA sorgen schon dafür, dass Schulden weltweit möglichst in Dollar gemacht werden. Wobei es natürlich nicht der Staat ist, der hier die Fäden zieht, sondern die Reichen und Mächtigen dieser Welt, Plutokraten, die ihre Interessen immer rigoroser durchsetzen. Trump, konstatiert der Autor, ist nur der Portier der USA, der Sprecher der Eigentümer und Manager. Sie bilden Netzwerke der Macht und nehmen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und damit letztendlich auch auf die Gesellschaft. Wurde früher versucht, Politiker zu beeinflussen, setzt man heute gleich die eigenen Leute an die richtigen Positionen. Der französische Präsident Emmanuel Macron zum Beispiel ist Günstling von Rothschild. EZB-Chef Dragi war zuvor Vizepräsident bei Goldman Sachs, seine Politik freut die internationalen Banken und Steve Mnuchin war 17 Jahre lang Investment-Banker von Goldman Sachs, bevor er 2017 Finanzminister der Vereinigten Staaten wurde. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, versichert Müller. Wahlen ändern an dieser Konstellation gar nichts. Die großen Entscheidungen werden längst hinter den Kulissen getroffen. Denn wenn Wahlen etwas ändern würden, hätten die Machteliten sie längst abgeschafft. Lediglich Volksbefragungen und Volksentscheide könnten ihnen gefährlich werden, aber nur dann, wenn die Bevölkerung mit allen relevanten Informationen versorgt wird, damit sie eine Entscheidung auch tatsächlich treffen kann. Diese Informationen aber gibt es nicht mehr, denn auch die Medien sind längst in der Hand der Plutokraten. Für Enthüllungsjournalismus gibt es kein Geld mehr, nur hohe Klickzahlen bringen Werbeeinnahmen und zwar genau von den Unternehmen, die den Plutokraten gehören. Das kostenlose Internet hat die Krise des unabhängigen Journalismus und damit das Ende dieser Kontrollinstanz befördert. Und die wenigen Medienkonzerne, die noch übrig sind, gehören genau den Plutokraten, die sie eigentlich kontrollieren sollen. Sie werden dazu genutzt, die Feinde der Plutokratie zu jagen und zu diffamieren und damit die Macht der Reichen unabänderbar zu etablieren.

Die Machteliten dieser Welt stellen also die Politiker, die in ihrem Sinne entscheiden, sie kontrollieren die Medien und jeden Einzelnen durch die Analyse seiner Daten, filtern seine Schwächen heraus und schaffen so den perfekten Zustand für die Plutokratie. Und der Einzelne ist damit auch noch zufrieden, jedenfalls solange es ihm gut geht! Wie lange das aber noch sein wird, hängt davon ab, wie der Wandel der Gesellschaft durch Digitalisierung und Automatisierung gelingt. Denn der technische Fortschritt wird wie bereits erwähnt den Verlust von rund 60 Prozent aller Arbeitsplätze mit sich bringen. Benötigt werden dann nur noch hochspezialisierte Fachkräfte und nicht jeder LKW-Fahrer kann zum IT-Spezialisten umgeschult werden. Was wird also aus dem Heer der Arbeitslosen? Hier sieht Müller neben den Risiken auch Chancen, etwa durch das Grundeinkommen, das längst keine Fantasterei mehr ist, sondern mit Einzug der neuen Technologien sogar zur zwingenden Notwendigkeit wird. Aber auch hier haben die Reichen bereits eigene Pläne, wie sie ihre Macht weiter festigen und das „Volk“ unter ihre absolute Kontrolle bringen können: Geld bekommt nur, wer sich wunschgemäß verhält. Und die großen Datenkraken wie Amazon und Google sorgen für die lückenlose Überwachung. Was futuristisch klingt, ist in China mit dem Bonuspunktesystem bereits Realität. Überhaupt steht nicht nur ein Pulverfass in China: Die Wirtschaft schwächelt, auch wenn die Statistiken etwas anderes behaupten. Hier entsteht die nächste große Wirtschaftsblase, ist sich Dirk Müller sicher und belegt das anhand zahlreicher Beispiele, wobei das Seidenstraßenprojekt zwei unterschiedliche Szenarien ermöglich. Der Bau von Straßen, Schienen, Flughäfen und Tiefseehäfen könnte in der Tat die Wirtschaft auf dem gesamten eurasischen Kontinent ankurbeln, wie es einst der Bau der Highways in Amerika tat. Das Projekt könnte aber militärisch genutzt werden und China damit die Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent sichern. Um nichts anderes geht es bei sämtlichen Konflikten unserer Zeit. Russland zum Beispiel wäre ohne die Ukraine eben kein eurasisches Reich mehr. Und die aktuellen Konflikte im Nahen Osten sind auch nur dazu da, den Kampf um die Vorherrschaft auf unserem Kontinent zwischen den USA und Russland auszutragen. Auch der Nordkorea-Konflikt hat kein anderes Ziel.

Überhaupt planen die Reichen und Mächtigen eine ganz andere Welt, in der es keine Einzelstaaten mehr gibt mit ihren unterschiedlichen Regelungen und Vorschriften. Das ist auch der Grund für die nachgerade geräuschlose Völkerwanderung unserer Tage. Man will die Verschmelzung aller Völker, auch wenn das nicht ohne Konflikte abgeht. Denn da wo Menschen ganz unterschiedlicher Kultur zum Zusammenleben gezwungen werden, bleiben Konflikte nicht aus. Und damit die Bevölkerung von alldem nichts mitbekommt, wird sie manipuliert und unterhalten. Brot und Spiele, wie im alten Rom. Kommt es doch einmal zu Widerständen, opfert man einen Politiker und alles ist wieder gut. Dagegen wehren kann sich die große Masse nur durch Zusammenhalt. Und dazu ruft Dirk Müller am Ende seines Buches auf. Er rät den Menschen sich nicht länger spalten zu lassen, sondern sich zusammenzutun, miteinander zu reden und zu diskutieren und sich vor allen Dingen gegenseitig mit Respekt zu begegnen.

Fazit: Dirk Müller gelingt eine umfangreiche Zusammenstellung der wirtschaftlichen und politischen Situation rund um den Globus mit hilfreichen Erläuterungen und Einzelinformationen, die es in dieser kompakten Form sonst nicht gibt. Er beschreibt, was aktuell und in naher Zukunft in Politik und Wirtschaft geschehen wird und welchen direkten Einfluss das auf unser aller Leben hat. Jeder, der verstehen will, was auf der Welt vor sich geht, sollte dieses Buch gelesen haben – auch wenn es einem mit Blick auf die düsteren Aussichten gewiss schlaflose Nächte bereitet.

Bibliographische Angaben
Dirk Müller: Machtbeben. Die Welt vor der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten – Hintergründe, Risiken, Chancen
Heyne Verlag, 2018, 352 Seiten
ISBN: 978-3-543-20489-8

Gefangen in einem Psychodrama

Gefangen in einem Psychodrama
Kritik zum Tatort Dortmund „Inferno“
ARD/WDR Tatort “Inferno”: Kommissar Peter Faber (Jörg Hartmann, mitte) besichtigt den Tatort, einen Ruheraum in der Notfallambulanz der Klinik. (Foto: WDR/Thomas Kost)
Tatort zentrale Notaufnahme v.l.n.r.: Anna Schudt als Martina Bönisch, Jörg Hartmann als Peter Faber, Aylin Tezel als Nora Dalay, Rick Okon als Jan Pawlak. (Foto: WDR/Thomas Kost)

Der Tatort aus Dortmund ist bekannt für seine – drücken wir es höflich aus – „schwierigen“ Ermittler. Doch in der neuen Folge mit dem Titel „Inferno“ drehen schließlich alle durch: Nora Dalay (Aylin Tezel) bekommt wieder eine Panikattacke als sie sich freiwillig eine Plastiktüte über den Kopf zieht. Nur Jan Pawlak (Rick Okon) erkennt die kritische Situation und eilt ihr gerade noch rechtzeitig zur Hilfe. Peter Faber (Jörg Hartmann) und Kollegin Martina Bönisch (Anna Schudt) schauen seelenruhig zu, wie die junge Kollegin fast erstickt. Faber stellt schließlich selbst mit Bönisch den Mord nach und bringt sie dabei ebenfalls fast um. Und zu guter Letzt lässt er sich auf einen Psychotrip mit Hilfe von vermeintlichem LSD ein, dreht dabei völlig durch und stellt in einem ultimativen Showdown den Täter in selbstmörderischer Absicht, in dem er mit seinem Auto mit Vollgas in die Luxuskarosse von Dr. Dr. Andreas Norstädter (Alex Brendemühl) donnert. Der Arzt, der keiner war, wird abgeführt und Faber schwer verletzt in das Krankenhaus gebracht, in dem er und seine Kollegen bis dahin mehr oder weniger erfolgreich ermittelt haben. Dabei bleibt offen, ob man den falschen Arzt nun anhand der Indizien tatsächlich überführen kann und natürlich, wie schwer Faber verletzt ist.

Bis zu diesem fulminanten Finale war aber schlicht Langeweile angesagt. Faber war wieder einmal mehr mit sich und seinen eigenen Problemen beschäftigt, machte dabei einen mehr als unaufgeräumten Eindruck, sowohl psychisch als auch optisch. Kein Polizeichef würde einen derart kaputten Typen auf die Menschheit loslassen, auch nicht auf ebenso kranke Täter, wie in diesem Fall einen vermeintlichen Arzt, der sich in maßloser Selbstüberschätzung durchaus für fähig hielt, als Arzt und Psychiater zu arbeiten. Ein Irrer trifft einen anderen, könnte man sagen, das konnte nur in der Katastrophe – einem Inferno eben – enden. Kein schlechter Ansatz des Drehbuchautors Markus Busch, aber letztlich doch wieder nichts weiter als das inzwischen hinreichend bekannte, persönliche Psychodrama der Dortmunder Ermittler. Der Fall an sich, der spektakuläre Tod einer Ärztin, war wieder nur Nebensache – wie leider viel zu oft im Tatort aus Dortmund. /sis

Das Mordopfer starb mit einer Plastiktüte über dem Kopf: Kommissarin Nora Dalay (Aylin Tezel, links) macht den Selbstversuch. Peter Faber (Jörg Hartmann, links), Martina Bönisch (Anna Schudt, Mitte) und Jan Pawlak (Rick Okon, rechts) schauen zu. (Foto: WDR/Thomas Kost)

Ein bedrückender Fall

Ein bedrückender Fall
Kritik zum Polizeiruf 110 aus Rostock „Kindeswohl“
ARD/NDR Polizeiruf 110 “Kinderwohl”: Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Alexander Bukow (Charly Hübner) suchen nach Keno und Bukows Sohn Samuel. (Foto: NDR/Christine Schroeder)
Was ist passiert? Bukow (Charly Hübner) und König (Anneke Kim Sarnau) verschaffen sich einen Überblick. (Foto: NDR/Christine Schroeder)

Ein brisantes Thema hatten sich die Drehbuchautoren Christian Sothmann, Elke Schuch und Regisseur Lars Jessen für den neuen Polizeiruf 110 aus Rostock mit dem Titel „Kindeswohl“ vorgenommen. Es ging um die Unterbringung von schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen in Heimen privater Träger. Wie sich im Verlaufe des Films herausstellte, geben diese Heime und andere private Pflegeeinrichtungen die Kinder und Jugendlichen für den Bruchteil der im Inland anfallenden Kosten an Pflegeeltern im europäischen Ausland, in diesem Fall konkret in Polen und das in einvernehmlicher Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt. Nun sind polnische Pflegeeltern nicht besser oder schlechter als deutsche, aber für die Kinder und Jugendlichen muss der Wechsel in eine völlig fremde Welt ohne Freunde und mit einer Sprache, die sie nicht verstehen, einen ganz gewaltigen Eingriff in ihr Leben bedeuten. Für Otto (Niklas Post) war die Veränderung so drastisch, dass er einfach nicht mehr leben wollte und mehrfach Selbstmordversuche unternahm, bis es ihm schließlich gelang, kurz bevor sein „Bruder“ Keno (Junis Marlon) ihn aus seinem neuen Gefängnis befreien konnte. Keno kam zu spät, weil ihn der Heimleiter nach einem nächtlichen Gewaltausbruch kurzerhand eingesperrt hatte. Wieder in Freiheit machte er sich mit Alexander Bukows (Charly Hübner) Sohn Samuel (Jack Owen Berglund) auf den Weg nach Polen, wobei Keno wortwörtlich über Leichen ging. Er erschoss den Heimleiter ohne Zögern, als der ihm in die Quere kam. Ein Fall für Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und das Team aus Rostock, Anton Pöschel (Andreas Guenther) und Volker Thiesler (Josef Heynert). Es folgte ein Wettrennen auf Leben und Tod zwischen den Ermittlern und den beiden Jugendlichen, die schließlich Ottos Pflegeeltern auf einem ärmlichen Hof in Polen ausfindig machen konnten und den Pflegevater mit vorgehaltener Waffe dazu zwangen, den im Wald verscharrten toten Otto wieder auszugraben.

Wie schon in den Folgen zuvor waren König und Bukow mehr mit ihrem ständig schwelenden Scharmützel und zudem den eigenen Lebensbaustellen beschäftigt. Und obwohl in diesem Fall sein Sohn involviert war, hielt sich Bukow, der es sonst bekanntlich nicht so genau mit Recht und Gesetz nimmt, auffällig zurück. Er ging wohl dem ein oder anderen vermeintlichen Mitwisser unsanft an den Kragen und setzte auch seine Dienstwaffe in Polen ein, ansonsten aber hat man ihn beileibe schon aufgebrachter gesehen.

Alles in allem ist „Kindeswohl“ aber endlich wieder einmal ein spannender Krimi, der die dringend diskussionbedürftige Thematik gut nachvollziehbar und deshalb ungemein bedrückend herausarbeitet. Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner überzeugen mit ihrem leidenschaftlichen Spiel einmal mehr als ungleiches Paar, bei dem der nächste handgreifliche Wutausbruch nur eine Frage der Zeit scheint. Großartig! /sis

Der Fall der halben Gesichter

Der Fall der halben Gesichter
Kritik zum Tatort aus Köln „Bombengeschäft“
ARD/WDR Tatort “Bombengeschäft”: Schwierige Aufgabe für Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth (Joe Bausch, 2.v.r.) sowie die Kommissare Freddy Schenk (Dietmar Bär, links) und Max Ballauf (Klaus J. Behrendt, 2.v.l.): Nur ein Stück Unterkiefer konnte der Kollege der KTU vom Toten sicherstellen. (Foto: WDR/Martin Valentin Menke)

Wo Sprengstoff im Spiel ist, verliert man schnell ein paar Körperteile – war es das, was Regisseur und Drehbuchautor Thomas Stiller seinen Zuschauern durch die immer wieder nur halb zu sehenden Gesichter der Akteure im neuen Tatort aus Köln mit dem Titel “Bombengeschäft” vermitteln wollte? Eine andere Erklärung jedenfalls lässt sich nicht finden. Und hilfreich war dieses merkwürdige Stilmittel auch nicht: Das Mienenspiel der Figuren, die eigentliche Kunst jedes Schauspielers, ging dadurch zu einem großen Teil verloren und es nervte schlicht, Max Ballauf (Klaus J. Behrend) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) und alle anderen Schauspieler, darunter so namhafte Größen wie Ralph Herforth und Thomas Darchinger, bei nahezu jeder Großaufnahme nur mit halben Kopf zu sehen.

Der Begriff „halb“ zog sich indes wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte. Nur mit halber Kraft, ja fast schon saft- und kraftlos gingen Ballauf und Schenk an die Ermittlungen. Man hätte ihnen hin und wieder eine Currywurst gewünscht, vielleicht hätten sie dann mehr Dynamik entwickelt. Auch war das zugrunde liegende Motiv für den anfänglichen Mord an dem Sprengmeister Peter Krämer, den Überfall auf dessen nicht gerade trauernde Witwe Alena Krämer (Alessija Lause) und den Mordversuch an seinem Proleten-Freund Alexander Haug (Sascha Alexander Gersak) viel zu schnell erkennbar. Schließlich ist jedem sofort klar, warum ein Sprengmeister plötzlich vom Kauf eines Grundstücks zurücktritt, das kann nur mit einer Bombe irgendwo tief unter der Erde des Neubaugebiets zu tun haben. Und damit das nicht bekannt wird und womöglich die schönen Gewinnpläne des Immobilienmaklers zerstört, kann es auch nur zwei Täter geben: den Immobilienmakler selbst (Marco Hofschneider) und den in diesem Fall als Gutachter fungierenden Mitarbeiter einer Kampfmittelbeseitigungsfirma (Adrian Topol), der, durch Spielsucht hochverschuldet, für die entsprechende Menge Bares grünes Licht für den Bau der idyllischen Reihenhaussiedlung gibt, ein wahrhaft bombiges Geschäft. Nur macht es eben wenig Spaß, dabei zuzuschauen, wie die Kommissare lange weiter im Trüben fischen. Spannung wollte so erst gar nicht aufkommen.

Das war schlicht zu wenig für einen Tatort aus Köln, zu wenig für die im Grunde gute Geschichte, auch wenn sie alles andere als neu war. Belastete Grundstücke und daraus resultierende Erpressung waren eben doch schon viel zu oft Grund für Mord und Totschlag in einem Fernsehkrimi. Da hätte man sich zumindest für die handelnden Figuren und ihre Motive etwas mehr Fantasie gewünscht. Typisch Tatort Köln war in diesem Fall nur Assistent Norbert Jütte (Roland Riebeling), der wie gewohnt mehr mit seinen Pausen als mit Arbeit beschäftigt war – eine Art “Running Gag”, der aber nicht richtig zu zünden vermag – und Freddy Schenk, der wieder mit einem großen, spritfressenden Ami-Schlitten durch das Feinstaub geplagte Köln kutschieren durfte. Es lebe der Klimaschutz! /sis

ARD/WDR Tatort “Bombengeschäft”: Die Kommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt, links) und Freddy Schenk (Dietmar Bär, hinten) befragen den Spielhallenbesitzer Sascha Feichdinger (Thomas Darchinger, rechts). (Foto: WDR/Martin Valentin Menke)

Spannung trifft Humor

Spannung trifft Humor
Kritik zum Tatort Münster „Spieglein, Spieglein“
ARD/WDR Tatort “Spieglein, Spieglein”: Prof. Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers, l), Kommissar Frank Thiel (Axel Prahl, vorn), Silke Haller (ChrisTine Urspruch) und Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann, r) sind entsetzt, dass sie Schuld am Tod ihrer Doppergänger sein sollen. (Foto: WDR/Thomas Kost)

Kaum zu glauben aber wahr, der neue Tatort aus Münster „Spieglein, Spieglein“ wusste wieder zu überzeugen, auch wenn die Kritiken im Vorfeld eher gegenteiliges voraussagten. Natürlich kann es nur Fantasie sein, wenn in der nordrhein-westfälischen Domstadt Münster unter etwas mehr als 300.000 Einwohnern gleich fünf Doppelgänger ausgemacht werden. Dennoch handelte es sich um eine kluge Geschichte mit viel Tempo gepaart mit Spannung und dem ganz besonderen Humor, ohne dabei die Ernsthaftigkeit einer Mordermittlung zu vernachlässigen. Das können eben nur Thiel (Axel Prahl) und Professor Boerne (Jan Josef Liefers). Die Charaktere blieben sich selbst treu und verloren auch angesichts der skurrilen Geschehnisse nicht den Respekt vor ihrer Arbeit, was leider nicht alle Tatort-Ermittlerteams von sich behaupten können. Auch wenn es ein paar Schwächen gab. So war Thiels Assistentin Nadeshda Krusenstern zwar beurlaubt – weil Schauspielerin Friederike Kempter ihr erstes Kind bekommen hat und sich während der Dreharbeiten noch in Mutterschutz befand -, trotzdem war sie an den Ermittlungen rund um den 14. Fall „Wolfsstunde“ mit dem Sexualmörder Sascha Kröger (Arnd Klawitter) beteiligt, auf den diese Folge aufbaute. Mithin hätte logischerweise auch sie Ziel des Racheaktes sein müssen. Für alle Münsteraner Protagonisten hat Krögers Verlobte Birgit Brückner (Kathrin Angerer) Doppelgänger gesucht und gefunden, neben Thiel und Boerne eben auch für Staatsanwältin Klemm (Mechthild Großmann), Boernes Assistentin Silke „Alberich“ Haller (Christine Urspruch) und sogar Thiels Vater Herbert (Claus D. Clausnitzer), nur für Nadeshda nicht! Und als Thiel seinen Vater ermordet glaubte – in dieser Szene ganz ausgezeichnet gespielt von Axel Prahl -, hätte er eigentlich schon von fern erkennen müssen, dass es sich am Tatort nicht um das Taxi seines Vaters handelte.

Kleine Schönheitsfehler, die den Gesamteindruck indes nicht trüben können. Die Geschichte von Drehbuchautor Benjamin Hessler war schlüssig und die Mörderin handelte mit durchaus nachvollziehbaren Motiven, Grundvoraussetzung für einen guten Krimi. Dazu kommen mit dem selbstverliebten Boerne und dem eher zurückhaltend eitlen Thiel zwei großartige Charaktere, die in dieser Konstellation ganz einfach nicht zu übertreffen sind. Der Tatort aus Münster war deshalb wieder ein wahres Vergnügen für alle Krimifreunde, das gerne wiederholt werden darf. /sis

Besessen von gesunder Ernährung

Besessen von gesunder Ernährung
Im Gespräch mit Professor Thomas J. Huber, Chefarzt der Klinik am Korso

Wir alle möchten uns möglichst gesund ernähren. Viel Obst und Gemüse, wenig Fleisch, wenig Zucker umweltbewusst aus der Region und je nach Saison, immer frisch zubereitet, keine industriell be- oder verarbeiteten Lebensmittel. Das klingt doch recht einfach. Nur ist es das nicht mehr. Denn das Thema “gesunde Ernährung” nimmt inzwischen breiten Raum in unserem Alltag ein. Immer häufiger beschäftigen wir uns in Gedanken schon mit der nächsten Mahlzeit, nicht, weil wir hungrig sind, auf etwas Appetit haben oder uns einfach nur auf das Essen freuen, sondern weil wir darüber nachdenken, was genau wir essen sollen. Wir sind verunsichert angesichts der geradezu inflationär steigenden Zahl an Kochshows, deren agierende Sterneköche jeweils ganz eigene Tipps und Ratschläge bereithalten. Dazu kommen unzählige Ernährungsempfehlungen und Trends wie “Clean Eating”, “Raw Food” und “Detoxing“, die ganz erheblich voneinander abweichen, bei strikter Einhaltung aber allesamt Gesundheit und ein langes Leben versprechen.

Natürlich ist Essen mehr als die bloße Nahrungsaufnahme zur Erhaltung der Körperfunktionen. Gutes Essen hat etwas mit Lebensqualität zu tun. Wenn Essen aber zur Ersatzreligion wird, sollte man sein Verhalten überprüfen. Denn wenn die Gedanken täglichen Stunden um das Thema gesunde Nahrung kreisen, dann könnte es gut sein, dass „gesundes Essen“ bereits „krank“ gemacht hat.  Diese übermäßige Fixierung auf gesundes Essen wird „Orthorexie“ genannt, die Betroffenen sind regelrecht besessen davon, ausschließlich gesunde Nahrung zu sich zu nehmen. Sie entwickeln eine große Angst vor eventuell schädlichen Nahrungsmitteln. Sie legen strenge Regeln für ihre Ernährung fest und verbringen viel Zeit mit der Planung ihrer Mahlzeiten. Das Essen gewinnt die Oberhand im Alltag – genau wie bei Magersüchtigen oder Bulimie-Erkrankten. Noch zählt Orthorexie nicht zu den anerkannten Krankheiten, aber sie ist auf dem besten Weg dorthin.

Neuere Studien belegen, dass vor allem sportlich aktive Frauen – insbesondere Intensivsportlerinnen – ein orthorektisches Verhalten zeigen. Auch Kinder können schon von Orthorexie betroffen sein, wenn ihre Eltern ihnen ein entsprechend gesundheitsbewusstes Ernährungsverhalten vorleben.

„Besser-klartext.de“ sprach darüber mit Professor Dr. Thomas J. Huber, Chefarzt der Klinik am Korso, einer Spezialklinik zur Behandlung von Essstörungen in Bad Oeynhausen, und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Ernährungs- und Sozialmedizin.

Professor Dr. Thomas J. Huber (Foto: privat)

Herr Professor Huber, wie hoch ist der Prozentsatz der von Orthorexie betroffenen Bevölkerung?

Professor Huber: Das ist leider überhaupt nicht zuverlässig zu beantworten, da Orthorexie keine anerkannte Erkrankung ist und dementsprechend auch keine verbindlichen Kriterien bestehen. Dennoch gibt es vorläufige Untersuchungsinstrumente, die jedoch nicht einheitliche Ergebnisse liefern. Vorsichtig vermutet geht man von etwa 1 Prozent Betroffenen aus. In Zusammenhang mit „anerkannten“ Essstörungen sind orthorektische Verhaltensweisen noch häufiger.

Wo kommt diese Ess- oder Verhaltensstörung plötzlich her? Kann das etwas mit dem inflationären Auftreten von Kochshows mit Sterneköchen zu tun haben, die permanent für eine „gesunde Ernährung“ plädieren und in jeder Show ein anderes Lebensmittel als gesund oder ungesund bezeichnet wird? Wurde ein solcher Einfluss überhaupt schon einmal untersucht?

Professor Huber: Beschrieben wurde die Orthorexie von Steven Bratman 1997, der sie an sich selbst feststellte. Ob ähnliche Phänomene vor seiner Beschreibung schon bestanden ist nicht wirklich geklärt. Seither wird es auf jeden Fall zunehmend diskutiert. Vermuten kann man in der Tat einen Zusammenhang zu der weltweiten Verbreitung von teilweise gut gemeinten, teilweise auch einfach unsinnigen Ernährungsempfehlungen und einer Sehnsucht der Menschen nach klaren Handlungsanweisungen in einer Welt, in der es immer schwieriger wird zwischen „richtig“ und „falsch“ zu unterscheiden. Eine diesbezügliche Untersuchung ist mir nicht bekannt.

 Gibt es überhaupt die „gesunde Ernährung“ und wenn ja, wie sieht sie aus?

Professor Huber: DIE gesunde Ernährung gibt es meines Erachtens nicht, aber durchaus verschiedene gesunde Ernährungsformen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass der Körper durch sie mit allen wichtigen Nahrungsbestandteilen in ausreichender Menge versorgt wird. Das ist bei der Orthorexie in der Regel nicht mehr der Fall. Insofern ist es eben keine gesunde Ernährungsweise. Gesund ist ein ausgewogenes Verhältnis von Fett, Kohlenhydraten und Protein mit ausreichender Menge von Vitaminen, Spurenelementen etc. wie es etwas die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt. Eigentlich „ungesunde“ Lebensmittel gibt es eigentlich nicht, es kommt vor allem auf die Menge an. Als ungünstig würde ich lediglich künstliche Süßstoffe und Geschmacksverstärker bezeichnen, da diese Hunger- und Sättigung durcheinander bringen.

Wie bewerten Sie den Selbsttest von Steven Bratman? Ist er geeignet, Orthorexie selbst zu diagnostizieren?

Professor Huber: Herr Bratman hat in diesem Selbsttest vor allem das beschrieben, was er bei sich selbst beobachtet hat. Er ist erst einmal geeignet, um Menschen mit ähnlich gelagertem Essverhalten zu identifizieren, stellt aber eben kein diagnostisches Instrument dar, da ja die Orthorexie gar keine anerkannte Krankheit ist. Insofern wäre ich auch mit dem Begriff „Diagnose“ vorsichtig.

Wie immer gibt es ja zahlreiche Abstufungen der Störung, ab wann kann man denn überhaupt von einer Störung (egal ob Ernährungs- oder Verhaltensstörung) sprechen, wann wird sie gefährlich und sollte behandelt werden? Was sind die wirksamsten Gegenmaßnahmen bei weniger dramatischem Verlauf?

Professor Huber: Da wie erwähnt, keine anerkannte Erkrankung, sind das noch nicht zu beantwortende Fragen. In Ermangelung wissenschaftlicher Ergebnisse oder gar Leitlinien zu diesem Thema würde ich empfehlen: wenn jemand unter seiner speziellen Ernährungsform (egal ob orthorektisch oder nicht) leidet, sie aber nicht eigenständig verändern kann, ist das Aufsuchen einer Beratungsstelle oder Ernährungsberatung zu empfehlen. In der Internationalen Klassifikation von Erkrankungen ist das subjektive Leid ein entscheidendes Kriterium dafür, ob etwas als Störung gilt oder nicht. Weitere Kriterien können natürlich Folgeschäden wie etwa Mangelzustände oder soziale Schwierigkeiten sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Informationen zur Klinik am Korso gibt es unter www.klinik-am-korso.de

Einen Orthorexie-Selbsttext gibt es unter https://www.orthorexhttps://www.lifeline.de/krankheiten/test-orthorexie-risiko-id145909.html

Ein beinahe gelungener Thriller

Ein beinahe gelungener Thriller
Rezension Marc Elsberg: Helix – Sie werden uns ersetzen

Nach “Blackout” und “Zero” legt Marc Elsberg mit „Helix – Sie werden uns ersetzen“ sein drittes Buch vor. Nach den dramatischen Folgen eines europaweiten Stromausfalls und einem Abstecher in die Welt der Manipulation von jungen Menschen durch intelligente Computerprogramme ist es diesmal das Menschsein selbst, zumindest wie wir es kennen, das der Autor in seinem über 670 Seiten starken Thriller attackiert. Es geht um Genmanipulation bei Pflanzen, Tieren und letztlich den Menschen.

Der amerikanische Außenminister bricht auf der Sicherheitskonferenz in München tot zusammen. Herzprobleme, die sich aber bei der Obduktion als durch einen von Menschenhand geschaffenen Killervirus verursacht entpuppen. Zeitgleich werden an unterschiedlichen Orten auf der ganzen Erde äußerst robuste und krankheitsresistente Pflanzen und Tiere entdeckt. Das ruft natürlich die Regierung und sämtliche amerikanischen Geheimdienste und sonstige Spezialeinheiten auf den Plan. Jessica Roberts, von der Präsidentin der Vereinigten Staaten zur Sonderermittlerin in diesem Fall berufen, kommt mit Hilfe von Wissenschaftlern und einem Heer von Einsatzkräften dem Geheimnis um Killervirus und Genmanipulationen auf die Spur. Zur selben Zeit muss sich ein amerikanisches Ehepaar für die künstliche Befruchtung entscheiden zwischen einem ganz normalen Kind oder einem “modernen” Kind mit besonderen Eigenschaften nach Wunsch: Aussehen, Größe, Intelligenz sind nur einige der Wahlmöglichkeiten. Und dann wird auch noch die zehnjährige Jill vermisst, die wie 15 aussieht, bereits studiert und durch ihr außergewöhnliches Wissen, ohne dass es jemand gemerkt hätte, ein Vermögen an der Börse gemacht hat, das sie für die Weiterentwicklung “moderner Kinder” einsetzt. Das alles läuft zusammen in New Garden, einer Forschungseinrichtung, in der eben diese “modernen Kinder” bereits Wirklichkeit sind. Kinder, die sich schneller entwickeln, weit intelligenter sind und über ungeheure Kräfte verfügen, wie der zehnjährige Eugene, der unter anderem über eine enorme Sprungkraft verfügt.

Elsberg erzählt auch dieses Mal seine Geschichte dramatisch und ungemein spannend, spart auch ethischen Fragen nicht aus und legt ein Buch vor, das man nicht mehr aus den Händen legen mag. Das ändert sich aber ab der Hälfte der Geschichte. Dann nämlich, als eine Handvoll Kleinkinder ein Heer von bis an die Zähne bewaffnete Soldaten, die Wissenschaftler und Sonderermittler mitsamt Jessica Roberts und der Präsidentin in New Garden überwältigt, die Präsidentin als Geisel nimmt und sich mit einem Hubschrauber, den eben jener Eugene fliegt, aus dem Staub macht. Man ahnt es schon, die Absichten von Wunderkind Eugene sind eher negativer Natur. Von da an läuft die Geschichte bis zu ihrem spektakulären Ende am Flughafen Sao Paulo einige Mal gehörig aus dem Ruder, gleitet ab in unglaubwürdige Science-Fiction eingebettet in unsere reale Gegenwart. Schade, hätte der Autor die unterschiedlichen Erzählstränge zu einem soliden Ende geführt, wäre das Buch vielleicht nur halb so dick, dafür aber spannend von der ersten bis zur letzten Seite geworden. /sis

Bibliographische Angaben
Marc Elsberg, Helix. Sie werden uns ersetzen
Blanvalet Verlag, 2018, 672 Seiten
ISBN 978-3734105579

Alles andere als überzeugend

Alles andere als überzeugend
Kritik zum Tatort aus dem Schwarzwald „Für immer und dich“
ARD/SWR Tatort “Für immer und dich”: Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) hat nicht mehr damit gerechnet, dass das verschwundene Mädchen nochmal auftaucht. Aber jetzt haben er und Franziska Tobler (Eva Löbau) tatsächlich Spuren von ihr gefunden. (Foto: SWR/Benoit Linder)

Schon der Titel des vierten Tatorts aus dem Schwarzwald gibt Rätsel auf, was ist gemeint mit der Verkürzung, „Für immer und dich“?  Soll es bedeuten, dass der ältere Mann und die Minderjährige „für immer“ zusammenbleiben und „für dich“ – für das junge Mädchen tut der ältere Mann alles was er tut? So kann es nicht gemeint sein, denn der ältere Mann – Martin Nussbaum (Andreas Lust) – entpuppte sich als pädophil veranlagter Versager, der nach einer Firmenpleite mit dem Geld seiner Mutter für sich und ein damals erst 13-jähriges Mädchen eine Auszeit auf der Flucht finanziert. Das Mädchen, Emily Arnold (Meira Durand), ist nicht etwa verliebt in Martin Nussbaum, sie will nur – wie jeder Teenager in dem Alter – weg von Zuhause, sich ausprobieren. Soweit so gut. Emily verschwindet mit Nussbaum und wird erfolglos zwei Jahre gesucht. Dann wird sie plötzlich von ihrer Mutter gesehen und die Polizei-Maschinerie läuft erneut an. Hauptkommissarin Franziska Tobler (Eva Löbau) bekommt den Fall auf den Tisch. Denn der ursprünglich mit der Vermisstensache betraute Hauptkommissar Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) ist mit einem Unfall beschäftigt, bei dem ein Junge ums Leben kam. Eine Vermisstensache und eine Verkehrssache also – nicht unbedingt Aufgaben für die Kriminalpolizei möchte man meinen. Und in dieser Konstellation und Motivlage ganz gewiss auch nicht für einen spannenden Krimi geeignet. Tatsächlich war die Folge aus dem Schwarzwald dann auch ziemlich langweilig. Die Geschichte von Drehbuchautor Magnus Vattrodt verzettelte sich in viel Tatfolgegeschehen, beschäftigte sich mit der merkwürdigen Beziehung des ungleichen Pärchens, zeigte die Versuche des älteren Mannes an Geld zu kommen, um das Mädchen weiter bei sich zu halten und zugleich die Bemühungen des Mädchens aus der unheilvollen Beziehung auszubrechen. Dazu wurden zahlreiche Klischees bedient, frei nach dem Motto „Familie ist etwas Wunderbares“. Die Ermittlungen von Berg und Tobler spielten eine eher untergeordnete Rolle und basierten nicht auf Polizeiarbeit, sondern auf Zufallsfunden. Erst der Chip des zum Entsetzen aller Zuschauer brutal erschlagenen Hundes, der Nussbaum gehörte und Emily mehr faszinierte als sein Besitzer, brachte die Kommissare auf die Spur Nussbaums, der, von Emily unbemerkt, den tödlichen Unfall verursacht hatte.

Auch der vierte Tatort aus dem Schwarzwald war alles andere als überzeugend. Ein nachlässig zusammengezimmertes Gerüst für die wahre Geschichte des ungleichen Paares, das Monate lang die Schlagzeilen der Regenbogenpresse beherrschte. Obendrein präsentierten die Macher ein durch die Sommerhitze recht mitgenommen aussehendes Ermittlerteam, dem man so gerne eine erfrischende Dusche gegönnt hätte und zu allem Überfluss auch noch eine Hauptkommissarin auf der Toilette. Die völlig überflüssige Erzählung von Toblers vermeintlicher Schwangerschaft hätte man gewiss auch appetitlicher darstellen oder besser noch weglassen können, wie eigentlich den ganzen Film! /sis

Kurzweilige Unterhaltung mit viel Situationskomik

Kurzweilige Unterhaltung mit viel Situationskomik
Kritik zum Tatort “Borowski und das Glück der Anderen”
ARD/NRD Tatort “Borowski und das Glück der Anderen”: Almila Bagriacik (Mila Sahin) und Axel Milberg (Klaus Borowski). (Foto: NDR/Christine Schroeder)

Ein bisschen verrückt sind Klaus Borowskis (Axel Milberg) Täter ja immer. So auch in seinem neuesten Fall, in dem Neid der Auslöser allen Übels ist. Supermarktkassiererin und Hausmütterchen Peggy Stresemann (Katrin Wichmann) neidet ihren Nachbarn Victoria und Thomas Dell das vermeintliche Lottoglück. Sie haben den Jackpot gewonnen, ausgerechnet die, die sowieso schon alles haben. Das jedenfalls meint Peggy aus der im Haus gegenüber beobachteten Szene zu entnehmen. Und sie verrennt sich immer mehr in die Idee, dass auch ihr endlich ein Stück vom ganz großen Glück zustehen müsste, zumal ihr Ehemann Micha Stresemann (Aljoscha Stadelmann) mit sich und seinem Leben durchaus zufrieden scheint und ihren Zukunftsträumen nur Unverständnis entgegenbringt. Also steigt Peggy ins Nachbarhaus ein und sucht die Lottoquittung, noch wurde der Gewinn nicht abgeholt. Dabei wird sie aber vom Hausherrn ertappt und als der ein Beweisfoto der „süßen Szene mit den lila Gummihandschuhen“ machen will, ballert Peggy drauf los – mit gleich sieben Schuss streckt sie Thomas Dell (Volkram Zschiesche) nieder!

Alles in allem eine nette Geschichte mit viel Situationskomik und einer großartigen Katrin Wichmann. Borowski und seine neue Partnerin Mila Sahin (Almila Bagriacik) bleiben dagegen ungewöhnlich blass. Borowski ermittelt mit der Dynamik einer Schnecke und hält sich in erster Linie mit Verständnis für die unglücklichen Lebensumstände der vermeintlichen und der echten Täterin auf. Seine neue Partnerin Mila Sahin bekommt auch in diesem Tatort aus Kiel noch kein richtiges Profil. Da helfen auch das blaue Auge und die zur Sympathiesteigerung eingebaute Szene mit Borowski als Wohnung suchendes Brautpaar in froher Hoffnung nichts. Trotzdem entpuppte sich „Borowski und das Glück der Anderen“ als kurzweilige Unterhaltung, der zwar die Dramatik und Spannung eines echten Krimis fehlte, aber den wohlwollenden Zuschauer durchaus bis zum Ende bei der Stange hielt. /sis

ARD/NDR Tatort “Borowski und das Glück der Anderen”: Borowski (Axel Milberg) hat einen Verdacht. (Foto: NDR/Christine Schroeder)

Ein wenig zu viel des Guten

Ein wenig zu viel des Guten
Kritik zum Tatort Franken „Ein Tag wie jeder andere“
ARD/BR Tatort “Ein Tag wie jeder andere”: Kriminalhauptkommissarin Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel), Kriminalhauptkommissar Felix Voss (Fabian Hinrichs) und Kriminalkommissar Sebastian Fleischer (Andreas Leopold Schadt) betrachten die Leiche von Katrin Tscherna (Katharina Spiering). (Foto: BR/Hendrik Heiden/Claussen + Putz).

Rache ist immer ein starkes Motiv, auch wenn im fünften Tatort aus Franken der Aspekt ein wenig überbetont wurde. So war der Haupttäter Martin Kessler (Stephan Grossmann) einfach zu rachsüchtig, der beschuldigte Molkereibesitzer Rolf Koch (Jürgen Tarrach) dagegen zu emotionslos und der durch die Entführung seiner Tochter zu den Morden gezwungene Rechtsanwalt Thomas Peters (Thorsten Merten) doch ein wenig zu bereitwillig. Nun ist es natürlich in fantasievollen Geschichten durchaus erlaubt, ein wenig zu übertreiben, aber manchmal ist es eben ein Quäntchen zu viel des Guten. So auch in diesem Tatort, in dem dafür das Ermittlerteam Felix Voss (Fabian Hinrichs) und Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) wiederum ein wenig zu blass blieben. Daran änderte auch Voss‘ herbe Ansprache nichts, in der er dem gesamten Team recht lautstark erklärte, dass Recht für alle gilt, eben auch für Täter, was immer sie auch getan haben mögen. Und Hauptkommissarin Ringelhahn wiederum wirkte ein wenig zu abgebrüht, nachdem sie Rechtsanwalt Peters durch einen tödlichen Schuss daran gehindert hatte, einen dritten Mord zu begehen. Überhaupt waren die Kommissare zu leichtfertig bereit, ein Leben zu opfern, um das entführte Mädchen zu retten. Welches Leben ist denn mehr wert?

Ein wenig verwirrend waren die Rückblenden, die dem Zuschauer die Ursachen des aktuellen Geschehens erläutern sollten. Dass es sich um Rückblenden und nicht etwa um Szenen der laufenden Geschichte handelte, war indes nicht immer gleich erkennbar. Etwas konstruiert wirkte schließlich auch die Auflösung des letzten Mordes, in der sich Kesslers Exfrau (Karina Plachetka) unter anderem Namen als Sekretärin des Polizeipräsidenten Zugang zu Kessler und so die Möglichkeit verschafft hatte, den Verursacher allen Unglücks zu ermorden.

Und doch handelte es sich hier endlich wieder einmal um einen ausgesprochen gefälligen Tatort, der mit einer spannendenden Geschichte auch kritische Zuschauer zu überzeugen wusste. Dazu trugen nicht zuletzt die Szenen im Bayreuther Festspielhaus mit Richard Wagners bombastischer Musik bei. /sis

Europa liegt nicht in Brüssel!

Europa liegt nicht in Brüssel!
Rezension Hans Magnus Enzensberger „Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“

„Brüssel liegt in Europa, aber Europa nicht in Brüssel“ ist die Kernaussage in Hans Magnus Enzensbergers Essay  über die Irrungen und Wirrungen der Brüsseler Bürokraten, die die Allwissenheit für sich gepachtet zu haben scheinen und mithin am besten wissen wollen, was für die europäische Bevölkerung gut ist und was nicht. Ein Mitspracherecht gehört definitiv nicht dazu. Denn in den entscheidenden Institutionen Rat und Kommission sitzen nicht gewählte und damit auch nicht abwählbare Vertreter aus den Mitgliedstaaten, ein Heer von Räten, Kommissaren, Generaldirektoren und Verwaltungsräten in einer unüberschaubaren Zahl von Einzelinstitutionen mit ebenso unverständlichen Abkürzungen als Namen. Enzensberger listet eine Vielzahl auf, die erschrocken macht. Und er weist darauf hin, dass die Spitzenpositionen nicht nach Eignung, sondern nach Proporz vergeben werden, während die Beamten in der zweiten Reihe ihre Kompetenz in einem komplizierten Ausschreibungsverfahren unter Beweis stellen müssen: ohne entsprechende Ausbildung und Berufserfahrung kein Job in Brüssel.

Die Brüsseler Stellvertreter sind unbeliebt und das kommt nicht von ungefähr, denn ihr Normierungswahn kennt keine Grenzen, betont der Autor. Und wie das so ist mit einer machtbesessenen Institution, versucht sie ihre Kompetenzen immer weiter auszudehnen, obwohl das nicht im Sinne der Gründungsväter sein dürfte. Diese wollten die „Vereinigten Staaten von Europa“ viel eher unter ein Subsidiaritätsprinzip gestellt sehen, soll heißen, was in der Region entschieden werden kann, wird auch genau dort entschieden. Die Gemeinschaft hingegen sollte sich um Probleme kümmern, die kein Land alleine lösen kann, wie etwa die Luftfahrtkontrolle oder Fischfangquoten. Doch die europäischen Bürokraten haben sich durch Flexibilitätsklauseln auch da Eingriffsmöglichkeiten geschaffen, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben. Nur die Kultur blieb bisher von ihren Normierungsversuchen verschont, zu vielfältig zeigt sich dieser Bereich. Wobei Enzensberger deutlich macht, dass die Ideen für neue Normen in den Villen und Büroetagen der Lobbyisten entstehen und nicht etwa in den Köpfen der Brüsseler Abgeordneten und Beamten.

Trotz aller Ausdehnungsbemühungen ist die Europäische Union aber eine Wirtschaftsgemeinschaft geblieben, meint der Autor, denn die Wirtschaft bestimmt das Schicksal und nicht etwa die Politik. Dabei sei aber die wirtschaftliche Integration ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen Kulturen der Länder vorangetrieben worden. Das trifft etwa auch auf die Eurozone zu, in die Länder aufgenommen wurden, die die Stabilitätskriterien gar nicht erfüllten, oder deren geschönte Zahlen nicht einmal überprüft wurden. Und so sei ein weiterer Grundsatz der Gründungsväter ausgehebelt worden, dass nämlich kein Mitgliedsstaat für die Schulden des anderen haften soll. Dank Gummiklauseln konnten diverse Rettungsschirme aufgespannt werden, die die Regelungen des Währungs- und Stabilitätspaktes schlicht umgehen und die Eurozone in eine Transferunion verwandelt haben, in der jedes Mitglied für alle anderen unbegrenzt zu haften hat. Die Spekulanten lachen sich ins Fäustchen, während der Europarat der Bevölkerung versichert, seine Entscheidungen seien „alternativlos“, was einem Denkverbot gleichkommt.

In der Trias von Parlament, Rat und Kommission verschwindet die Demokratie und wer dagegen aufbegehrt, wird als antieuropäisch denunziert. Aber das aus der Ohnmacht der Bevölkerung resultierende Desinteresse kommt den in Brüssel, Strasburg und Luxemburg kunstvoll geschaffenen Institutionen gerade recht, erklärt der Autor gut nachvollziehbar, denn die Brüsseler Bürokraten wollen und brauchen die Aufmerksamkeit der Bevölkerung nicht. Selbstkritik und Demut sind ohnehin nicht ihre Stärke. Sie leiden an Größenwahn, der keine Grenzen mehr kennt, attestiert Enzensberger und dem Leser bleibt nur die Erkenntnis, dass dies gewiss nicht das Europa ist, von dem die Völker auf dem europäischen Kontinent einst geträumt haben! /sis

Bibliographische Angaben:
Hans Magnus Enzensberger „Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“
Sonderdruck Edition Suhrkamp
11. Auflage 2015, Suhrkamp Verlag Berlin, 73 Seiten
ISBN: 978-3-518-06172-5

Merkwürdig komödiantisches Spektakel

Merkwürdig komödiantisches Spektakel
Kritik zum Tatort “Murot und das Murmeltier”
ARD/HR Tatort “Murot und das Murmeltier”: LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur, li.) hat die Nase voll und verschafft sicht Zutritt zu der Wohnung einer Verdächtigen – die Kettensäge weckt allerdings das Misstrauen eines Nachbarn (Jens Wawrczeck). (Foto: HR/Bettina Müller)

Was wollte uns Drehbuchautor Dietrich Brüggemann, der auch Regie führte und für die ausgesprochen gute Musik sorgte, mit dem Tatort „Murot und das Murmeltier“ denn nun eigentlich erzählen? Die längst bekannte Geschichte von dem sich immer wiederholenden Alltag kann es nicht gewesen sein, die hätte niemanden zu Begeisterungsstürmen veranlasst. Eine Kriminalgeschichte wohl auch nicht, dazu fehlten schlicht sämtliche Zutaten. Je länger man darüber nachdenkt, um so eher wird deutlich, dass uns der Autor vielleicht einfach nur unterhalten wollte mit seinem merkwürdig komödiantischen Spektakel aus der Ecke Comedy und Slapstick. Wer erschießt schon seinen Wecker oder springt mit einem derart hässlichen Pyjama aus dem Fenster oder geht im Bademantel in einen Baumarkt?

Nein, es kann sich nur um einen Witz gehandelt haben, denn mehr gab Murots Murmeltiertag gewiss nicht her. Wer es komisch findet, wenn Leute reihenweise ohne besonderen Grund in einer Endlosschleife einfach abgeknallt werden, mag mit diesem Tatort auf seine Kosten gekommen sein. Die wahren Krimifreunde aber blieben – wieder einmal – auf der Strecke. So etwas ähnliches wie Spannung erzeugte vielleicht der Umstand, dass man nie genau wusste, was Felix Murot (Ulrich Tukur) in der nächsten Fassung seines Albtraums tun würde. Er ballerte jedesmal munter drauf los, auf seinen musikliebenden Nachbarn zum Beispiel, den vermeintlichen Bankräuber und Geiselnehmer (Christian Ehrich), der eigentlich gar nichts wollte und dessen jugendliche Komplizin (Nadine Dubois) mit Armbrust, die auch nicht wirklich ins Geschehen passte. Murots Assistentin Magda Wächter (Barbara Philipp) war zur Statistin degradiert, genau wie alle anderen Beteiligten nichts weiter als Staffage waren. Je länger der Albtraum dauerte, um so mehr musste man befürchten, dass der LKA-Ermittler sich und anderen ernsthaft schadet, schließlich konnte er gar nicht wissen, wann denn nun ein neuer Tag mit neuem Geschehen angebrochen war, dazu war der jeweilige Auftakt zum Murmeltiertag einfach zu unterschiedlich. 

Das alles kann gefallen, als eigenständiger Film vielleicht, als Tatort aber eher nicht! Für Experimente gibt es genug Reihen auch in der ARD – der Filmmittwoch zum Beispiel. Dort hätte ein solcher Film auch mit dem großartigen Ulrich Tukur in der Hauptrolle gewiss einen würdigen Rahmen gefunden. Der Tatort aber sollte den Verantwortlichen für derartige Experimente doch eigentlich viel zu schade sein! /sis

Wirre Geschichten und viel Effekthascherei

Wirre Geschichten und viel Effekthascherei
Kritik zum Polizeiruf 110 aus Magdeburg „Zehn Rosen“
ARD/MDR Polizeiruf 110 “Zehn Rosen”: Brasch (Claudia Michelsen) und Köhler (Matthias Matschke) kommen am Tatort an.(Foto: MDR/Stefan Erhard)

Die Rosen waren der einzige Hinweis auf die tatsächlichen Hintergründe der beiden Mordfälle, den Drehbuchautor Wolfgang Strauch seinen Zuschauer zubilligte. Rosen als Zeichen der Liebe, und um enttäuschte Liebe ging es letztlich in diesem Polizeiruf 110 aus Magdeburg mit den wie immer durchweg schlecht gelaunten Kommissaren Doreen Brasch (Claudia Michaelsen) und Dirk Köhler (Matthias Matschke). Statt schrille Motorradbraut zeigte sich Brasch aber von ihrer sanften Seite, schwer verliebt in den Polizeipsychologen Wilke (Steven Scharf). Der Rest der Geschichte verhedderte sich in allerlei wirre Einzelerzählungen vom verlorenen Schatten des Kriminalrats Uwe Lemp (Felix Vörtler), über die schwierige Lebensgeschichte der Transfrau Pauline/Paul Schilling (Alessija Lause), den hemmungslosen Schläger Jan Freise (Sven Schelker) und den gestandenen Polizeiausbilder Ulf Meier (André Jung).

Der Autor schickte seine Zuschauer immer wieder kreuz und quer durch tragische Schicksale und belastende Geschehnisse und hielt sie mit viel Effekthascherei vom eigentlichen Kern der Geschichte fern. Zu guter Letzt wurde ein Täter für beide Morde aus dem Hut gezaubert, dessen Motiv jedoch mehr als dürftig war. Die in einem Krimi zwingend erforderliche „Fallhöhe“ – die Bedeutung dessen, was für den Täter auf dem Spiel steht – stimmte nicht. Mord aus enttäuschter Liebe ist für einen eher ruhigen, lebenserfahrenen Täter, der dem Zuschauer den gesamten Film über vorgeführt wurde, mehr als unglaubwürdig. Dafür bekam der Täter aber einen spektakulären Abgang, der aber auch nicht in die Dramaturgie eines Krimis passen wollte. Denn am Ende eines Krimis muss es Gerechtigkeit geben – der Täter muss leiden, wie seine Opfer gelitten haben. Eine wenn auch gewaltige Explosion befriedigt dieses Bedürfnis nach Ausgleich nun einmal nicht. Und so drängt sich der Eindruck auf, dass dem Zuschauer gar kein spannender Kriminalfall und dessen Auflösung präsentiert werden sollten, sondern er sich in erster Linie mit dem noch immer sehr schwierigen Alltag transsexueller Menschen auseinandersetzen sollte. Ein brisantes Thema gewiss und jeder Diskussion wert. Ob aber ein Krimi dafür den richtigen Rahmen liefert, darf man getrost in Frage stellen. /sis

Strafversetzt nach Göttingen

Strafversetzt nach Göttingen
Kritik zum Tatort „Das verschwundene Kind“
 NRD-Tatort “Das verschwundene Kind”: Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anais Schmitz (Florence Kasumba) (Foto: NDR/Christine Schroeder)

Ob man den beiden Klasseschauspielerinnen Maria Furtwängler und Florence Kasumba mit den Rollen des Ermittlerduos Charlotte Lindholm/ Anais Schmitz einen Gefallen getan hat, darf bezweifelt werden. Zu krass ist nicht nur der optische Unterschied. Auch die aggressiven Ausraster der neuen Tatort-Ermittlerin mit dem schwermütigen Blick, die bereits in unzähligen Tatorten in ganz unterschiedlichen Rollen zu sehen war, können weder als lustig noch als integrationsförderlich bezeichnet werden, ganz im Gegenteil! Eine Kollegin zu ohrfeigen geht gar nicht – nie und unter keinen Umständen und schon gar nicht im öffentlich-rechtlichen Bildungsfernsehen. In diesem Tatort konnte die Kommissarin sogar ungerügt auch auf Verdächtige losgehen und der ohnehin merkwürdig ironische Chef schwieg dazu. Unerträglich!

Abgesehen davon war aber die Geschichte über eine bis zum letzten Augenblick verdrängte Schwangerschaft und dem letztlich in einer Mülltonne aufgefundenen Neugeborenen durchaus „Tatort-würdig“ mit einigen sehr bedrückenden Bildern, die man in den ansonsten unaufgeregten Krimis deutscher Machart zum Glück eher seltener sieht. Nur leider wurden in „Das verschwundene Kind“ zu viele Verdächtige mit zu vielen unterschiedlichen Motiven vorgeführt, deren Aufspüren und Vernehmen die an sich klug kombinierte Story der Drehbuchautoren Franziska Buch, Jan Braren und Stefan Dähnert unnötig in die Länge zogen. Die damit verbundenen häufigen Schauplatz- und Perspektivwechsel sorgten deshalb auch nicht für spannendes Tempo, sondern eher für ausgedehnte Strecken gepflegter Langeweile. Die Auflösung am Ende kam dann genauso überraschend wie das bis dahin erste und einzige Lächeln der beiden Kommissarinnen, die ansonsten stur und wenig ansprechend in ihrem Zickenkrieg verharrten. Das, was die LKA-Ermittlerin Charlotte Lindholm bisher ausgemacht hat, ihr untrügliches Gespür für Menschen und Motive und ihr etwas chaotisches Privatleben blieben diesmal gänzlich auf der Strecke. Leider! /sis

Stellbrinks Abschied ohne Tränen

Stellbrinks Abschied ohne Tränen
Kritik zum Tatort Saarbrücken „Der Pakt“
ARD/SR Tatort “Der Pakt”: Kriminalhauptkommissarin Lisa Marx (Elisabeth Brück) mit Kriminalhauptkommissar Jens Stellbrink (Devid Striesow) bei Dr. Bindra (Franziska Schubert) (Foto: SR/Manuela Meyer)

Wirklich schlecht war er nicht, der letzte Tatort aus Saarbrücken mit Devid Striesow als Kommissar Jens Stellbrink. Auch wenn es gewiss nicht Striesows beste schauspielerische Leistung war, was aber vermutlich am Drehbuch lag. Was wollten die Buchautoren Michael Vershinin und Zoltan Spirandelli denn nun eigentlich mit ihrer Geschichte „Der Pakt“ erzählen? Dass es Flüchtlingen, die mit falschen Vorstellungen kommen, insbesondere auch den sogenannten „Illegalen“, noch immer schlecht bei uns geht? Dass sie für eine Duldung gerne auch andere Illegale an die Behörden verraten? Dass sie in großer Zahl auf die Hilfe irgendeines Mediziners angewiesen sind, dessen Qualifikation sie nicht überprüfen können? Dass die Menschen aus aller Herren Länder ihre jeweils ganz eigenen Probleme mitbringen und nicht etwa an der Grenze ablegen? Dass Frust und Enttäuschung rasch in Aggression und schließlich hemmungslose Gewalt umschlagen können? Vielleicht sollte die Geschichte von allem etwas widerspiegeln und das machte sie schließlich zu überladen. Und weil das den Autoren immer noch alles nicht reichte, ließen sie ganz nebenbei auch noch linke und rechte Ideologien aufeinanderprallen. Schwesterschülerin Anika (Lucie Hollmann), die sich aufopfernd um kranke Flüchtlinge und insbesondere um Kamal (El Mehdi Meskar) kümmerte, war mit der Ausbilderin wegen rassistischer Äußerungen aneinandergeraten. Der tragische Tod des kleinen Jungen und der spätere Selbstmord seines Bruders Kamal, der einen Pakt mit der Ausländerbehörde geschlossen hatte, um in Deutschland bleiben zu können, hatte ebenfalls nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun. Es ging vielmehr um die Ärztin Dr. Bindra (Franziska Schubert), die gar keine war. Die von ihr geschasste Schwesternschülerin Vanessa kommt hinter ihr Geheimnis und droht sie auffliegen zu lassen. Die Möchte-Gern-Ärztin bringt sie um. Eine Geschichte, die wir so oder ähnlich schon hundert Mal gesehen haben. Von den streckenweise sehr gezwungen wirkenden Verhören auf die falsche Spur gebracht, lösten die Ermittler selbst den Racheakt an Kamal und seinem kleinen Bruder und damit den Tod der beiden aus. Neben Stellbring ermittelt in dieser Folge auch wieder Lisa Marx (Elisabeth Brück), Mia Emmerich (Sandra Maren Schneider) und Horst Jordan (Hartmut Volle), die alle hinter ihren Möglichkeiten zurückblieben, weil die Verhöre statt ihrer Arbeit im Mittelpunkt standen.

Alles in allem drückten die Autoren mit dem Tatort „Der Pakt“ gehörig auf die Tränendrüse, erzeugten damit aber nicht die wohl beabsichtigte Betroffenheit. Auch beim scheidenden Kommissar Jens Stellbrink nicht, der zwar den Selbstmord Kamals wortwörtlich beweinte, ansonsten aber distanziert bis gleichgültig blieb. So wird man den bisher zu recht sehr beliebten Kommissar im Saarland und auch sonst in der Republik doch eher nicht vermissen. /sis

Verstehen, was auf der Welt vor sich geht

Verstehen, was auf der Welt vor sich geht
Rezension Gabor Steingart „Weltbeben – Leben im Zeitalter der Überforderung“

Die Welt ist verrückt geworden, das denken wohl die meisten Menschen angesichts von Krieg und Terror, politischen und wirtschaftlichen Skadalen und anderen alltäglichen Unabwägbarkeiten. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ aber ist ungemein kompliziert, so kompliziert wie die Welt selbst. Gabor Steingart ist es mit seinem Buch „Weltbeben – Leben im Zeitalter der Überforderung“ gelungen, die scheinbar unentwirrbaren Zusammenhänge von Politik und Wirtschaft aufzuräufeln und seinen Lesern mit klaren Worten gut nachvollziehbar offenzulegen. Er beschreibt die „Besinnungslosigkeiten des ökonomischen Größenwahns“, die Instrumente der Manipulation, mit denen uns die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft hinters Licht führen und wie sie statt nach Lösungen zu suchen, medientaugliche Geschichten erzählen. „Die Eliten kultivieren das Weghören“, konstatiert Steingart und hält den großen Knall für möglich. Aber, da ist er sicher, die Phänomene seien vom Menschen gemacht und könnten deshalb auch verändert werden. Deshalb schließt seine Analyse mit „einer hohen Dosis Zuversicht“, die allerdings nach der Lektüre des Buches nicht von jedem geteilt werden wird.

Steingarts Weltenschau beginnt mit der Überforderung und Selbstüberschätzung Amerikas. Amerika beschwört seine Größe und Einzigartigkeit, sieht sich als unverzichtbare Weltmacht und kann nicht glauben, dass nicht alle Welt das genauso sieht. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg Amerika zur mächtigsten Nation der Welt auf und dominierte alle anderen Staaten politisch, wirtschaftlich und militärisch. Doch Amerika ist schon lange keine Schutzmacht und kein Garant für Sicherheit mehr. Die Amerikaner können sich aber nicht damit abfinden, dass ihre Kultur eben nicht universell ist. Aus den vielen Lektionen des Scheiterns hat Amerika nichts gelernt und „die Misserfolge haben die USA nicht demütig, sondern rachsüchtig gemacht“.

Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor Europa, das von den frühen Anfängen bis 1945 nur Krieg und Gräueltaten vorzuweisen hat. Keine Seuche habe je so viel Tod gebracht, wie die mörderische Kriegslust der europäischen Völker. Erst mit der Kapitulation von Hitler-Deutschland sei Europa zur Besinnung gekommen und habe die Europäische Union als „Besserungsanstalt für fehlgeleitete Patrioten“ begründet. Ziel war die Nation zu überwinden, um Krieg zu verhindern. Dieses vernünftige Unterfangen aber sei von machtbesessenen Bürokraten in Brüssel gekapert worden. Nationalstaat und Patriotismus seien so diskreditiert worden, dass sich heute niemand mehr wage, ihnen Bedeutung beizumessen. Das einst geplante Europa in Vielfalt werde von der „europäischen Normierungsanstalt“ in einen europäischen Einheitsstaat umgewandelt. Brüssel normiert alles, von der Glühbirne bis zum Menschen. „Das Europa der Brüsseler Apparate ist ein Monster“, schreibt Steingart. Ein Monster im Übrigen, das auch Pöstchen-Selbstbedienung zu besten Konditionen beinhaltet. Politiker, die Zuhause ihren Posten verloren haben, können in Brüssel. Luxemburg oder Strasburg ein zweites Leben beginnen, ohne je wieder einem aufmüpfigen Wähler ausgeliefert zu sein. Nur wollten die Menschen sich nicht länger in diesen Schmelztiegel geworfen sehen, der alles und jeden glatt zu schleifen versuche. Brexit und Flüchtlingskrise seien nur zwei der Sollbruchstellen, die die Überforderung deutlich machten. Die europäische Idee indes sei die wertvollste, die dieser Kontinent in den letzten 100 Jahren hervorgebracht habe. Sie ermutige auch zum Widerstand gegen dieses nur halbdemokratische System, das sich als alternativlos ausgebe.

Den weltweiten Terrorismus bezeichnet der Autor als neuen Krieg der religiös motivierten Terrornetzwerke gegen die westlichen Gesellschaften. Wobei in diesem Krieg nicht etwa die Neuordnung der Welt das Ziel sei, sondern ihre Erschütterung. Wir seien nicht Opfer, sondern Beteiligte dieses globalen Krieges. Und die Regierenden, die mit ihren öffentlichen Beileidsbekundungen für die Opfer nach einem Terroranschlag auch gleich die Grundlage für die nächste Attacke bereiteten, hätten keinen Plan, wie sie dem radikal-islamistischen Terror begegnen sollen, darum redeten sie ihn klein und unterschätzten ihn damit. Die globale Organisation des extremistischen Islam und sein kulturelles Hinterland, das bis tief in die deutsche Migrantenszene reiche, werde verharmlost. Die Ursache des Terrors sieht Steingart in der jüngeren Geschichte der internationalen Politik, bei der es nicht um Demokratie und Menschenrechte, sondern einzig und allein um Interessen von Staaten gehe –im Nahen Osten um den Zugang zu Erdöl. Deshalb habe Amerika den Iran mit einem Staatsstreich zu seiner „Tankstelle“ gemacht. Während der durch den Staatsstreich an die Macht gekommene Shah Reza Pahlevi und seine Frau Farah Diba nach außen hin Glanz und Glamour verbreiteten, herrschte im Innern des Landes Folter und Unterdrückung. Der Terror habe viele Wurzeln, betont Steingart, ein dicker Strang aber führe direkt in die USA. Im Nahen Osten seien sich die Kulturkreise zu nahegekommen. Sie müssten jetzt mit Dialog wieder auf Abstand gebracht werden.

Weltweite Zerstörung löse nicht nur der Terrorismus, sondern auch die Dynamik des Kapitalismus aus. Das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte sei längst verschwunden. Und der Staat komme aus dem Retten, Regulieren und Bestrafen der Großkonzerne gar nicht mehr heraus. Die soziale Marktwirtschaft sei von den Grundlagen eines Ludwig Erhard Lichtjahre entfernt. Umsatz-, Steuer- und Sozialgesetze würden nicht mehr als Gesellschaftsvertrag verstanden, sondern als zu überwindende Zumutung. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts sei der Augenblicksgier verfallen, auch im Ausland. In der Finanzindustrie gar zahle man lieber Strafen, als sich an Gesetze zu halten. Und die Kreditsucht der Staaten sei dem Finanzsektor außerordentlich gut bekommen, Banken wiesen eine historische Prosperität auf. Notenbanken seien längst schon keine Währungshüter mehr, sondern Gelddruckmaschinen. Irgendwann, so Steingart, hätten die Staaten gar keine andere Wahl mehr, als die „steuerliche Leistungskraft der Leistungsfähigen“ und der Sparer anzuzapfen.

Mit Blick auf die digitale Gesellschaft rät Steingart den politischen und wirtschaftlichen Eliten lieber auf die Störgeräusche der Unzufriedenen zu hören, statt sie nur als Populismus abzutun. Industrie 4.0 bedeute für viele Menschen eine Erniedrigung und gerade gering Qualifizierte seien chancenlos. Letztlich aber verlören auch die Eliten mit der Digitalisierung ihr Monopol auf die Massenkommunikation. Konnten die Politiker ihre Überforderung bislang gut verbergen und so ihre Position sichern, ändere sich das mit der zunehmenden Zahl an Kommunikationskanälen. Als Gegenmaßnahme habe sich eine ganze Industrie von Beratern formiert, die das Image der Politiker aufbessern sollen, in dem sie schlicht die Wahrnehmung der Wähler manipulieren. (Siehe dazu auch die Artikel zu “Nudging” Teil I und II sowie die Rezension Thaler/Sunstein). „Wir alle sind die Kaninchen bei dem Versuch, diese psychologischen Techniken der Manipulation und des Verkaufens auf die Demokratie zu übertragen“, meint Steingart und nennt Bio, Öko und Nachhaltigkeit „Tarnnamen der Scharlatanerie“. Neue Europaabgeordnete etwa lernten in eigens etablierten Kursen, wie man den Wähler durch Sprache und nicht mit Taten beeinflusst. Der Ablenkungspolitiker hätte seinen großen Auftritt.

Der Autor glaubt, dass die Bürger dem Treiben der politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht länger gleichgültig zuschauen werden. Stattdessen werde er die bisherigen Eliten in ihrem Machtanspruch begrenzen, Transparenz, Mitbestimmung Teilhabe und Kommunikation einfordert und damit die Demokratisierung der Demokratie in Gang setzen.

Fazit: Gabor Steingart stellt Politik und Wirtschaft ein sehr schlechtes Zeugnis aus. In klaren Worten zählt er auf, was schief läuft bei uns und in der Welt, wobei er auch sein eigenes Umfeld – die Medien – nicht von harscher Kritik ausnimmt. Jeder Bereich hat offenbar seine eigenen Instrumente entwickelt, um die Überforderung zu vertuschen und diese Instrumente macht der Autor in seinem Buch sichtbar. Bei seinem Blick auf die Zukunft, für die er eine stille Revolution bereits in vollem Gange sieht, ist er aber wohl zu optimistisch. Denn die Menschen haben sich längst eingerichtet in der von Politik und Wirtschaft erzeugten, überaus bequemen Hängematte der großen Illusion. /sis

Bibliographische Angaben:
Gabor Steingart: Weltbeben. Leben im Zeitalter der Überforderung
Knaus Verlag, 2016, 240 Seiten
ISBN 978-3-8135-0519-1

Dortmund hat “Rücken”!

Dortmund hat “Rücken”!
Kritik zum Tatort aus Dortmund “Zorn”
ARD/WDR Tatort “Zorn”: Mordkommission Dortmund: Martina Bönisch (Anna Schudt), Jan Pawlak (Rick Okon), Nora Dalay (Aylin Tezel) und Peter Faber (Jörg Hartmann, v.l.n.r.). (Foto: WDR/Thomas Kost)

Der neue Tatort aus Dortmund war von den Faber-Fans sicher lange erwartet worden, nicht wegen eines aufregenden Krimis, sondern weil Peter Faber (Jörg Hartmann) so schön anders ist als alle anderen Tatort-Kommissare, wild, unbeherrscht, körperlich und seelisch ein Wrack. Schimanski kommt einem in den Sinn, Götz George in seiner abgetragenen Jacke. Aber gegen Faber war Schimanski eine geradezu gepflegte Erscheinung. Faber stößt ab, optisch und menschlich.

Das alleine reicht aber leider nicht, um einen Tatort-Abend unterhaltsam und spannend zu machen. Und so fehlte in der Folge „Zorn“ mit ihren düsteren Bildern aus dem Ruhrpott auch wieder alles, was man sich bei einem Tatort wünscht, eine spannend erzählte, außergewöhnliche Geschichte mit starken Charakteren, die den Zuschauer mitreißen. Davon war in „Zorn“ aus der Feder von Drehbuchautor Jürgen Werner nichts zu sehen. Vielmehr ging es erneut um Nebensächlichkeiten, wie Martina Bönischs (Anna Schudt) Rückenschmerzen, die sie zu einem Reiki-Meister führten, was wiederum gar nichts mit dem Fall zu tun hatte. Letztlich waren diese Rückenschmerzen aber irgendwie symptomatisch für diesen Tatort. Auch Nora Dalays (Aylin Tezel) massive Probleme mit ihrem neuen Kollegen Jan Pawlak (Rick Okon) spielten für die Ermittlungen zwar keine Rolle und blieben bis zum Schluss unerklärlich, sie hatten aber natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der beiden Jungkommissare. Am Ende gar versagten Noras Nerven, als sie hoch oben auf dem Stahlkoloss dem verzweifelten Bergarbeiter Ralf Tremmel (Thomas Lawinky) gegenüberstand und eine handfeste Panikattacke bekam, die sie völlig außer Gefecht setzte. Wenig überzeugend aber hatte Tremmel Mitleid mit der jungen Polizistin und legte den Sprengstoffzünder brav aus der Hand. Und dann waren da noch der Reichsbürger Friedemann Keller (Götz Schubert), der dem Geheimdienst in Person der sehr undurchsichtigen Dr. Klarissa Gallwitz (Bibiana Beglau) als Waffenlieferant und V-Mann zur Verfügung stand. Er lieferte den Sprengstoff für den Anschlag auf die ausgediente Zeche, die drei Kumpel nicht in einen Freizeitpark umgewidmet sehen wollten.

Warum ein Reichsbürger ausgerechnet mit einer ihm so verhassten öffentlichen Behörde Geschäfte machen sollte, blieb genauso ungeklärt wie die beiden Morde an zwei der Kumpel selbst. Wie immer, wenn der Geheimdienst im Spiel ist, wurde am Ende alles unter den berühmten Teppich gekehrt, klischeehafter geht es nicht mehr. Wieder ein Fall, der in Andeutungen endete und die eigentliche Aufgabe eines Krimis nicht erfüllte, nämlich den oder die Täter mit nachvollziehbaren Motiven dingfest zu machen. Stattdessen ging in „Zorn“ alles ziemlich durcheinander, für die Darsteller und die Zuschauer. Es war kein roter Faden erkennbar, die Ermittlungen plätscherten so dahin – und sogar Faber enttäuschte. Er zeigte sich zwar ungewaschen, aber doch gut gelaunt und stets zum Scherzen aufgelegt. Das haben seine Fans sicher nicht erwartet. So gesehen entpuppte sich der neue Fall aus Dortmund doch noch als kleine Überraschung. /sis

Spannende Geschichte, spannend erzählt

Spannende Geschichte, spannend erzählt
Kritik zum Tatort Wien “Wahre Lügen”
ARD Degeto Tatort “Wahre Lügen”: Der Mord an einer Journalistin, die zuletzt an einer Geschichte über illegale Waffengeschäfte gearbeitet hat, bringt die beiden Wiener Sonderermittler Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer)  zu einem nicht restlos aufgeklärten Todesfall aus der Vergangenheit.  (Foto: ARD Degeto/ORF/Cult Film/Petro Domenigg)

Es war der 20. gemeinsame Fall für die Wiener Sonderermittler Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und es war in der Tat ein ganz besonderer Fall. Eine spannende Geschichte, die zudem auch noch spannend erzählt wurde. Drehbuchautor und Regisseur Thomas Roth hielt sich dabei an die goldene Regel, die Filmemacher in jüngster Zeit nur allzu oft außer Acht lassen: Zeigen, statt reden, Bilder statt Dialoge. Immer wieder brachte er wichtige Elemente der Geschichte nur durch Bildsequenzen ein, verbunden mit geschickt eingestreuten Rückblicken auf die beiden scheinbar zusammenhängenden Mordfälle. Dazu kamen rasche Wechsel der Schauplätze, was der Folge mit dem vielsagenden Titel „Wahre Lügen“ zusätzliches Tempo verlieh.

Die Geschichte selbst sah lange Zeit nach dem ganz großen Verbrechen aus, in das höherrangige Politiker verstrickt zu sein schienen: Eine junge Journalistin wird auf dem Grund des Wolfgangsees in ihrem Auto gefunden, erschossen mit einer Pistole, die aus illegalem Waffenhandel stammt und damit zu einem älteren Fall führt, einem angeblichen Selbstmord eines österreichischen Ministers. Am Ende entpuppte sich der Mord an der Journalistin aber als eine reine Beziehungstat, als leidenschaftliche Rache von Sybille Wildering (Emily Cox) an ihrer Lebenspartnerin Sylvie Wolter (Susanne Geschwendtner) und deren neuen Freund David Weimann (Robert Hunger-Bühler). Etwas enttäuschend war das gezeichnete Bild höherer Dienststellen, die immer dann auf den Plan treten, wenn die Ermittlungen angeblich die innere Sicherheit gefährden. Das hat der Zuschauer schon viel zu oft gesehen. Und so bekamen es Bibi und Moritz wieder einmal mit Vertretern der Generaldirektion für Innere Sicherheit zu tun, was die Lösung des Falls über lange Strecken im illegalen Waffenhandel vermuten ließen. Dr. Maria Digruber (Franziska Hackl) und Lukas Kragl (Sebastian Wendelin) von der Generaldirektion wurden leider übermäßig klischeehaft dargestellt, frei nach der Devise, die Ermittler haben zu tun was sie sagen, wenn nicht, werden sie gefeuert. Schade! Das war aber der einzige Makel in diesem ansonsten wirklich spannenden Krimi, der ganz nebenbei sehr realistisch Bibis Fellners Kampf gegen die Alkoholsucht und die Bedeutung der Unterstützung durch ihren Partner Moritz Eisner thematisierte. Großartig, in jeder Hinsicht! /sis

Intervallfasten befreit die Zellen von molekularem Schrott

Intervallfasten befreit die Zellen von molekularem Schrott
Im Gespräch mit Molekularbiologe Slaven Stekovic von der Universität Graz
Wer abnehmen will muss auf die Ernährung achten. Intervallfasten allein reicht nicht auf dem Weg zum Traumgewicht.

Was ist daran an den grandiosen Schlagzeilen über die sagenhaften Gewichtsverluste beim Intervallfasten? Was macht diese Ernährungsmethode so viel besser als andere Diäten? Diese und einige andere Fragen hat “besser-klartext.de” Molekularbiologe Slaven Stekovic von der Universität Graz gestellt. Stekovic hat im Forschungsteam von Professor Frank Madeo mitgearbeitet, der bekannt ist für seine Studien über die Auswirkungen von Intervallfasten auf den Menschen.

Herr Stekovic, kann es überhaupt sein, dass man bei völlig unverändertem Essverhalten allein durch Intervallfasten etliche Kilo die Woche verliert? Das hört sich fast so an, als ob die alte Weisheit – wer mehr Kalorien aufnimmt, als er verbraucht, bekommt auf Dauer Gewichtsprobleme – beim Intervallfasten keine Gültigkeit mehr hat. Das kann doch nicht sein, oder?

Slaven Stekovic: Regelmäßige Fastenintervalle verändern unseren Stoffwechsel eindeutig, vor allem auf der zellulären Ebene. Dadurch werden unterschiedliche Mechanismen in der Zelle eingeschaltet, unter anderem auch die Autophagie – ein zelluläres “Recycling”-Programm, das dafür sorgt, dass defekte Moleküle und Organellen (zum Beispiel alte Proteine oder nicht-funktionierende Mitochondrien) aus der Zelle entfernt werden. Dadurch wird der Zelle über einen alternativen Weg die Energie zur Verfügung gestellt und als positiver Nebeneffekt wird die Zelle von dem “molekularen Schrott” befreit. Gerade das Zweite hat einen positiven Effekt auf die Funktion verschiedener Zellen und wurde in unterschiedlichen Organismen und mit Hilfe von mehreren Methoden mit Langlebigkeit in Verbindung gesetzt. Gewichtsreduktion ist beim Intervallfasten nur ein zusätzlicher Nebeneffekt, zumindest aus der Sicht eines Alters- und Zellforschers. Ob Gewichtsreduktion tatsächlich nur durch die Essenspausen oder durch dadurch verursachte aber experimentell nicht bestätigte Kalorienreduktion entsteht, ist aus den meisten Studien nicht wirklich ersichtlich. Kalorieneinnahme und -verbrauch sind immer noch gültig als Richtlinie für die Erhaltung oder Regulation des Körpergewichts. Allerdings muss man betonen, dass unser Lebensstil, inklusive unsere Essensgewohnheiten und gerade verschiedene Formen des Fastens und Kalorienreduktion, die metabolische Rate im Körper verändern können. 

Was ist denn beim Intervallfasten anders, vielleicht besser als bei anderen Ernährungsmethoden? Man muss doch in den Essensintervallen auch auf ausgewogene Ernährung achten mit allen Vitaminen und Mineralstoffen. Das ist bei keiner Diät anders.

Slaven Stekovic: Richtig! Was die Einnahme der essentiellen Mikro- und Makronährstoffen betrifft, sind verschiedene Fastenmethoden gleich wie andere diätetische Eingriffe. Es soll immer darauf geachtet werden, dass der Körper ausreichend Vitamine, Mineralien und andere gesundheitsrelevante Stoffe bekommt. Die Vorteile des Fastens liegen eher im Bereich der menschlichen Psychologie und unserer molekularen Regulation. Kontinuierliche Restriktionen verschiedener Nahrungsmittel und strikte Regulation der Nahrungsaufnahme verlangen sehr viel Disziplin. Dadurch ist es schwierig, eine sehr spezifische Diät langfristig umzusetzen. Diese werden daher eher als akute Eingriffe in unsere Ernährung verwendet. Intervallfasten lässt sich gut mit einer ausgeglichenen Ernährung kombinieren und wird sehr schnell zu einer Gewohnheit. Deswegen behaupten viele “Faster”, dass Intervallfasten “keine Diät, sondern ein Lebensstil” ist. Anders als bei vielen anderen Eingriffen in unsere Ernährung beeinflusst das Intervallfasten unser Sozialleben nur marginal, da die Ernährungsänderung nur in bestimmten zeitlichen Intervallen und nicht kontinuierlich praktiziert wird. 

Abgesehen von den sozialen Aspekten des Intervallfastens scheint ein regelmäßiger Nahrungsverzicht synchron mit unserer Biologie zu sein. Gerade in den letzten Jahrzehnten kamen einige bahnbrechende Ergebnisse aus dem Bereich der Chronobiologie, die sich mit periodischen Veränderungen in den biologischen Systemen auseinandersetzt. Für eine dieser Entdeckungen wurde sogar der Nobelpreis für Medizin und Physiologie in 2017 verliehen. Gleich wie bei der Lichtexposition scheint das Timing der Nahrungsaufnahme eine große Rolle in der Regulation verschiedener Gene zu spielen. So zeigte Professor Satchidananda Panda vom Salk Institut for Biological Studies, La Jolla, USA, dass Intervallfasten und Lichtexposition einige gemeinsame Genfamilien in den Zellen aktivieren können. Diese rhythmischen Veränderungen in unseren Zellen und unserem Körper können großen Einfluss auf das Risiko für verschiedene Erkrankungen haben und interessanterweise sind einige dieser Veränderungen auch mit Langlebigkeit und Methoden zur Lebensverlängerung in Verbindung zu setzen. Dieser Bereich der Biologie ist allerdings sehr jung und die nächsten Jahrzehnten werden uns helfen, einen tieferen Einblick in die zeitliche Regulation unserer Biologie zu bekommen.

Welche weiteren positiven Auswirkungen außer einer Gewichtsregulierung sind denn beim Intervallfasten zu erwarten?

Slaven Stekovic: Wie schon erwähnt, schaltet das Fasten die Autophagie ein. Dieser Prozess sorgt dafür, dass unsere Zellen den “molekularen Schrott” abbauen und aus alternativen Quellen Energie gewonnen wird. Die Erforschung dieses Prozesses wurde auch in 2016 mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausgezeichnet. Die Wirkungen der Autophagieeinschaltung haben vor allem einen Effekt auf die zelluläre Langlebigkeit und Funktion. So kann durch die Einschaltung der Autophagie durch das Fasten oder verschiedene Naturstoffe (zum Beispiel Resveratrol, Spermidin, Rapamycin) die zelluläre Lebensspanne und unter bestimmten Umständen auch die Lebensspanne verschiedener Organismen verlängert werden. Die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf Menschen wird gerade erforscht und in den nächsten zwei bis drei Jahren werden wir mehr über die Rolle der Autophagie bei der Lebensverlängerung wissen. Einschaltung der Autophagie steht auch in Verbindung mit der Risikosenkung für Herz- und Demenzerkrankungen, da intrazelluläre Ablagerungen dadurch beseitigt werden und die Zellfunktion länger erhalten bleibt. Fasten scheint auch bei Depressionen und Multiple Sklerose eine positive Wirkung zu haben. Weitere Studien dazu sind allerdings notwendig, bis wir wirklich genauer wissen, wie und unter welchen Bedingungen das Fasten hier eine Rolle spielt. 

Spielt die Dauer des Fastenintervalls eine Rolle und wenn ja, welche Intervalle empfiehlt die Ernährungsforscher? Was ist für den Körper besser: 16:8 oder 5/2 oder ein anderer Zeitrahmen?

Slaven Stekovic: Wir wissen es noch nicht genau, welcher zeitliche Abstand zwischen den Mahlzeiten für den Körper am besten geeignet ist. Das hängt stark von anderen Lebensgewohnheiten ab und sehr wahrscheinlich von unseren Genen. Neben den 16:8 und 5/2 Methoden gibt es zum Beispiel die sogenannte ADF (Alternate Day Fasting) Methode, in Österreich und Bayern bekannter als 10in2. Diese Methode wurde auch im Rahmen einer unserer Studien untersucht. Dabei handelt es sich um einen zweitägigen Zyklen von einem Fastentag und einem Esstag. Wir hoffen, dass wir im Laufe dieses Jahres die Ergebnisse dieser Studie veröffentlichen können.

Wie lange kann man Intervallfasten? Wochen, Monate, Jahre? Was ist noch gesund?

Slaven Stekovic: Diese Frage lässt sich noch nicht präzise beantworten. Grundsätzlich konnte die Wissenschaft noch keine Beweise liefern, die einen negativen Einfluss des Intervallfastens bestätigen konnten. Es ist eher wahrscheinlich, dass Intervallfasten langfristig positive Effekte auf die Biologie der Säugetiere und somit der Menschen haben kann, wie manche Studien von Professor Valter D. Longo (University of Southern California) und Rafael D. Cabo (National Institute on Aging) zeigen.

Es gibt eine Studie, die im Intervallfasten auch Risiken sieht: „Forscher der Universität von Sao Paulo in Brasilien haben beim jährlichen Treffen der European Society of Endocrinology in Barcelona eine neue Studie über die Auswirkungen des Intervallfastens präsentiert. In einem Experiment an Ratten fanden die Wissenschaftler heraus, dass Intervallfasten zwar zu Gewichtsverlust führen, allerdings auch der Bauchspeicheldrüse schaden und die Funktion des Hormons Insulin, das den Blutzucker reguliert, beinträchtigen kann, was wiederum zu Diabetes führen könnte.“  Wie stehen Sie dazu? Wie ist die Studienlage, gibt es neue Erkenntnisse?

Slaven Stekovic: Diese Studie wurde noch nicht veröffentlicht (es handelt sich nur um einen Abstract von einer Konferenz). Daher kann ich diese Ergebnisse noch nicht kommentieren. Je nach der Methode (Form des Intervallfastens, Zusammensetzung der Nahrung, Alter der Tiere) und durchgeführten Messungen können diese Ergebnisse für Menschen mehr oder weniger relevant sein. Grundsätzlich benötigen wir mehr Studien an Modellorganismen und vorsichtig durchgeführte klinische Studien, um die Effekte des Fastens auf unsere Biologie und Alterungsprozesse zu verstehen.

Was sollte auf jeden Fall vor dem Fastenbeginn beachtet werden?

Slaven Stekovic: Wer auf jeden Fall nicht fasten sollte, sind Kinder und Schwangere. Dies wird nicht oft genug betont, aber während des Wachstums des Körpers, ist es essenziell, ausreichend Nährstoffe zur Verfügung zu haben. Daher sollte das Intervallfasten in der Regel vor dem 25. Lebensjahr nicht empfohlen werden. Grundsätzlich ist es aber wichtiger, während als auch vor dem Fasten gewisse Sachen zu beachten. Zum Beispiel sollte man auf ausreichende Flüssigkeitsaufnahme und ausreichend Bewegung achten. Eine ausgewogene Ernährung ist sehr wichtig, denn der Körper bekommt nicht laufend die Möglichkeit, verschiedene Stoffe aufzunehmen. Aus praktischen Gründen ist es einfacher, unter der Woche zu fasten als am Wochenende, da wir unter der Woche mit anderen Sachen beschäftigt sind und den Heißhunger dadurch leichter überstehen. 

Vielen Dank für das Gespräch! /sis

Slaven Stekovic betreibt einen eigenen Blog (stekovic.com), auf dem er über seine Forschungen zu Langlebigkeit und Alter berichtet.

Mehr über die “InterFAST” Studie von Professor Madeo gibt es unter http://www.naturalrhythmeating.org/.  

Die Ergebnisse der Studie über ADF (Alternate Day Fasting), von der Slaven Stekovic spricht, liegen inzwischen vor und wurde unter https://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131(19)30429-2 veröffentlicht.

Bericht über einen Selbstversuch mit der Methode 16:8 “Intervallfasten – gut, aber keine Wunderwaffe

Spannender Krimi mit überraschendem Ende

Spannender Krimi mit überraschendem Ende
Kritik zum Tatort aus Köln:  Weiter, immer weiter
ARD/WDR Tatort “Weiter, immer weiter”: Polizist Frank Lorenz (Roeland Wiesnekker, r.) hat neue Informationen, die für die Kommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt, Mitte) und Freddy Schenk (Dietmar Bär, l.) wichtig sind. Doch eigentlich soll er sich aus den Mord-Ermittlungen heraushalten. (Foto: WDR/Martin Valentin Menke)

Endlich wieder einmal ein neuer Tatort, der sein Publikum gut zu unterhalten wusste. Nicht zuletzt das überaus beliebte Ermittlerduo Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär), dem der Fall stets wichtiger ist als persönliche Empfindlichkeiten und der außergewöhnlich starke Auftritt von Polizist Frank Lorenz (Roeland Wiesnekker) machten die Folge „Weiter, immer weiter“ zu einem spannenden Krimi mit überraschendem Ende. Vielleicht hätte man „Mecki“ Mechthild Lorenz (Annette Paulmann) etwas weniger realistisch darstellen können, um dem Zuschauer wenigstens den Hauch einer Chance beim Mitraten zu geben. So aber war nicht erkennbar, dass Mecki nur noch in der Einbildung von Lorenz existierte, der durch den Unfall bei der nächtlichen Verkehrskontrolle an den Selbstmord seiner Schwester erinnert in eine klassische Paranoia abrutschte. Mit den alltäglichen, manchmal nur schwer erträglichen Folgen seines stressigen Berufs konfrontiert, brauchte der bis dahin schon nicht unauffällige Polizist einen Schuldigen und fand ihn in dem russischen Geschäftsmann Nikolai Nikitin (Vladimir Burlakov). Er erfand und konstruierte alle möglichen Beweise, um seinen alten Freund Freddy „Schenky“ Schenk von seiner Mafia-Theorie zu überzeugen. Schenk vertraute lange auf Lorenz‘ Professionalität und verfolgte ein ums andere Mal der von Lorenz gelegten Spur, auch gegen Max Ballaufs Willen.

Die Beschreibung des Polizeialltags, das Abdriften in psychische Erkrankungen, die miesen Geschäfte mafiöser Strukturen und der Alltag kleiner Drogendealer, die ebenfalls Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können, ist den Drehbuchautoren Jan Martin Scharf und Arne Nolting in „Weiter, immer weiter“ gut nachvollziehbar gelungen. Ballaufs und Schenks wiederholte Kabbeleien und Norbert Jüttes (Roland Riebling) betont nervige Langsamkeit lieferten die unterhaltsamen Elemente dieser ansonsten bedrückenden Geschichte. Die Erwartungen an den Tatort Köln waren nach den vielen enttäuschenden Tatorten der letzten Wochen sehr hoch. Und tatsächlich gelang es Ballauf und Schenk das interessierte Tatort-Publikum etwas zu entschädigen. /sis

ARD/WDR Tatort “Weiter, immer weiter”: Betrachten sich das Phantombild eines Gesuchten: Kommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt, l.) und Freddy Schenk (Dietmar Bär, r.) mit ihrem Assistenten Norbert Jütte (Roland Riebeling, Mitte) im Besprechungsraum des Präsidiums. (Foto: WDR/Martin Valentin Menke).

Viel Klamauk, mehr aber auch nicht!

Viel Klamauk, mehr aber auch nicht!
Kritik zum Tatort Weimar „Der höllische Heinz“
ARD Tatort “Der höllische Heinz” (Foto: MDR/ Wiedemann&Berg/Anke Neugebauer)

Der Tatort aus Weimar mit den Kommissaren Kira Dorn (Nora Tschirner) und Lessing (Christian Ulmen) hatte ja noch nie einem besonders hohen Anspruch an krimitypische Spannung. “Witzig” ist wohl das Schlagwort, das die Inhalte der Tatorte aus Weimar am ehesten beschreibt. Aber will man das sehen, wenn man am Sonntagabend das Erste einschaltet – Klamauk statt Krimi? Wohl eher nicht. Als spaßige Komödie zur Fastnachtszeit hätte „Der höllische Heinz“ wegen der zahlreichen Kalauer sicher mindestens fünf von sechs Sterne verdient. Als Tatort fehlte aber einmal mehr der nötige Ernst.

Dorn und Lessing ermittelten auch in der Westernstadt El Doroda wieder nur zu ihrem persönlichen Vergnügen. Um sie herum starben Menschen, was sie aber scheinbar nicht tangierte. Nach der Gasexplosion am Ende der Geschichte, bei der zwei Menschen völlig unnötig ums Leben kamen, bestiegen die beiden mit ein paar lockeren Sprüchen über den wegen “Masern” abgesagten Besuch der Schwiegermutter ein Pferd und ritten glücklich davon. Statt – was jeder normale Mensche getan hätte – zur Abwehr der Gasexplosionsgefahr im Hause des Täters Heinz Knapps (Peter Kurth) die Fenster aufzureißen, rettete Kira Dorn nur ihren Ehemann und überließ Kapps und den Anführer der Motorradgang “Bones”, Nick Kircher (Martin Baden), einfach ihrem Schicksal. Bitter und obendrei auch schlicht strafbar, weil unterlassene Hilfeleistung! Anders als bei den ebenfalls immer um Humor bemühten Tatorten aus Münster fehlt es den Kommissaren in Weimar an Respekt, Respekt gegenüber ihrer Arbeit, den Opfern und auch den Menschen in ihrer Umgebung. Das ist schade, denn die eigentlich Geschichte der Drehbuchautoren Murmel Clausen und Andreas Pflüger, unter einem Freizeitgelände wertvolle “Seltene Erden” zu finden und über deren Eigentumsrechte einen erbitterten Kampf zu inszenieren, ist großartig. Auch, dass das Freizeitgelände ein Western-Park war, ist nicht unbedingt verkehrt. Nur ging das Thema schlicht unter im Wild-West-Getümmel von Kira Dorn als heißem Cowgirl und Polizist Ludwig Maria Pohl genannt „Lupo“ (Arndt Schwering-Sohnrey) als treffsicherem Cowboy. Irgendwie hegte man als Zuschauer ununterbrochen die Erwartung, dass gleich Michael “Bully” Herbig und Christian Tramitz um die Ecke kommen. Wie gesagt, nicht schlecht, aber eben kein Tatort! /sis

ARD MDR Tatort “Der höllische Heinz”: Kommissarin Kira Dorn (Nora Tschirner) bei ihrem Undercover-Einsatz in der Westernstadt El Doroda. (Foto: MDR/Wiedemann&Berg/Anke Neugebauer)
error: Content is protected !!