Düstere Aussichten für die Menschheit

Düstere Aussichten für die Menschheit
Rezension Dirk Müller: „Machtbeben – Die Welt vor der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten. Hintergründe, Risiken, Chancen“

Es ist schon eine düstere Vision, die der Finanz- und Wirtschaftsexperte Dirk Müller in seinem Buch „Machtbeben“ für die Zukunft der Welt zeichnet. Automatisierung und Digitalisierung werden fast 60 Prozent der Arbeitsplätze vernichten und gewiss nicht so viele neue schaffen. Doch sieht er auch eine Chance in der rasanten technischen Entwicklung, Unternehmer müssen ihre Betriebe nicht mehr in Länder verlegen, in denen es billige Arbeitsplätze gibt. Im Gegenteil, künftig wird echtes Fachwissen gefordert sein und die Produktion genau dort stattfinden, wo die Produkte verkauft werden, vor Ort nämlich. Denn nicht mehr der Lohn, sondern Transportkosten und Liefergeschwindigkeit bestimmen den Standort. Vorausgesetzt, ja vorausgesetzt die vielen Pulverfässer, die Müller rund um den Globus ausmacht, gehen nicht hoch.

Und Pulverfässer gibt es viele, zum Beispiel neue Probleme auf dem amerikanischen Finanzmarkt. Waren es 2008 geplatzte Immobilienkredite, die die weltweite Finanzkrise auslösten, so könnten es jetzt ohne Grenzen vergebene Kredite an Studenten und für Autos sein. Wieder wurden diese Kredite ohne Risiko für die ausgebende Bank verbrieft und weltweit gestreut. Man hat zwar aus den Fehlern 2008 gelernt, aber eben nichts geändert, so Müllers Fazit. Den USA ist es dabei auch egal, wie andere Länder mit solchen Problemen umgehen, denn die Vereinigten Staaten von Amerika können gar nicht pleite gehen. Werden ihnen ihre Dollar-Anleihen zur Zahlung vorgelegt, druckt die FED so viel Geld wie gebraucht wird. Fertig. Die eigene Notenbank macht es möglich. Andere Länder können das nicht und die USA sorgen schon dafür, dass Schulden weltweit möglichst in Dollar gemacht werden. Wobei es natürlich nicht der Staat ist, der hier die Fäden zieht, sondern die Reichen und Mächtigen dieser Welt, Plutokraten, die ihre Interessen immer rigoroser durchsetzen. Trump, konstatiert der Autor, ist nur der Portier der USA, der Sprecher der Eigentümer und Manager. Sie bilden Netzwerke der Macht und nehmen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und damit letztendlich auch auf die Gesellschaft. Wurde früher versucht, Politiker zu beeinflussen, setzt man heute gleich die eigenen Leute an die richtigen Positionen. Der französische Präsident Emmanuel Macron zum Beispiel ist Günstling von Rothschild. EZB-Chef Dragi war zuvor Vizepräsident bei Goldman Sachs, seine Politik freut die internationalen Banken und Steve Mnuchin war 17 Jahre lang Investment-Banker von Goldman Sachs, bevor er 2017 Finanzminister der Vereinigten Staaten wurde. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, versichert Müller. Wahlen ändern an dieser Konstellation gar nichts. Die großen Entscheidungen werden längst hinter den Kulissen getroffen. Denn wenn Wahlen etwas ändern würden, hätten die Machteliten sie längst abgeschafft. Lediglich Volksbefragungen und Volksentscheide könnten ihnen gefährlich werden, aber nur dann, wenn die Bevölkerung mit allen relevanten Informationen versorgt wird, damit sie eine Entscheidung auch tatsächlich treffen kann. Diese Informationen aber gibt es nicht mehr, denn auch die Medien sind längst in der Hand der Plutokraten. Für Enthüllungsjournalismus gibt es kein Geld mehr, nur hohe Klickzahlen bringen Werbeeinnahmen und zwar genau von den Unternehmen, die den Plutokraten gehören. Das kostenlose Internet hat die Krise des unabhängigen Journalismus und damit das Ende dieser Kontrollinstanz befördert. Und die wenigen Medienkonzerne, die noch übrig sind, gehören genau den Plutokraten, die sie eigentlich kontrollieren sollen. Sie werden dazu genutzt, die Feinde der Plutokratie zu jagen und zu diffamieren und damit die Macht der Reichen unabänderbar zu etablieren.

Die Machteliten dieser Welt stellen also die Politiker, die in ihrem Sinne entscheiden, sie kontrollieren die Medien und jeden Einzelnen durch die Analyse seiner Daten, filtern seine Schwächen heraus und schaffen so den perfekten Zustand für die Plutokratie. Und der Einzelne ist damit auch noch zufrieden, jedenfalls solange es ihm gut geht! Wie lange das aber noch sein wird, hängt davon ab, wie der Wandel der Gesellschaft durch Digitalisierung und Automatisierung gelingt. Denn der technische Fortschritt wird wie bereits erwähnt den Verlust von rund 60 Prozent aller Arbeitsplätze mit sich bringen. Benötigt werden dann nur noch hochspezialisierte Fachkräfte und nicht jeder LKW-Fahrer kann zum IT-Spezialisten umgeschult werden. Was wird also aus dem Heer der Arbeitslosen? Hier sieht Müller neben den Risiken auch Chancen, etwa durch das Grundeinkommen, das längst keine Fantasterei mehr ist, sondern mit Einzug der neuen Technologien sogar zur zwingenden Notwendigkeit wird. Aber auch hier haben die Reichen bereits eigene Pläne, wie sie ihre Macht weiter festigen und das „Volk“ unter ihre absolute Kontrolle bringen können: Geld bekommt nur, wer sich wunschgemäß verhält. Und die großen Datenkraken wie Amazon und Google sorgen für die lückenlose Überwachung. Was futuristisch klingt, ist in China mit dem Bonuspunktesystem bereits Realität. Überhaupt steht nicht nur ein Pulverfass in China: Die Wirtschaft schwächelt, auch wenn die Statistiken etwas anderes behaupten. Hier entsteht die nächste große Wirtschaftsblase, ist sich Dirk Müller sicher und belegt das anhand zahlreicher Beispiele, wobei das Seidenstraßenprojekt zwei unterschiedliche Szenarien ermöglich. Der Bau von Straßen, Schienen, Flughäfen und Tiefseehäfen könnte in der Tat die Wirtschaft auf dem gesamten eurasischen Kontinent ankurbeln, wie es einst der Bau der Highways in Amerika tat. Das Projekt könnte aber militärisch genutzt werden und China damit die Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent sichern. Um nichts anderes geht es bei sämtlichen Konflikten unserer Zeit. Russland zum Beispiel wäre ohne die Ukraine eben kein eurasisches Reich mehr. Und die aktuellen Konflikte im Nahen Osten sind auch nur dazu da, den Kampf um die Vorherrschaft auf unserem Kontinent zwischen den USA und Russland auszutragen. Auch der Nordkorea-Konflikt hat kein anderes Ziel.

Überhaupt planen die Reichen und Mächtigen eine ganz andere Welt, in der es keine Einzelstaaten mehr gibt mit ihren unterschiedlichen Regelungen und Vorschriften. Das ist auch der Grund für die nachgerade geräuschlose Völkerwanderung unserer Tage. Man will die Verschmelzung aller Völker, auch wenn das nicht ohne Konflikte abgeht. Denn da wo Menschen ganz unterschiedlicher Kultur zum Zusammenleben gezwungen werden, bleiben Konflikte nicht aus. Und damit die Bevölkerung von alldem nichts mitbekommt, wird sie manipuliert und unterhalten. Brot und Spiele, wie im alten Rom. Kommt es doch einmal zu Widerständen, opfert man einen Politiker und alles ist wieder gut. Dagegen wehren kann sich die große Masse nur durch Zusammenhalt. Und dazu ruft Dirk Müller am Ende seines Buches auf. Er rät den Menschen sich nicht länger spalten zu lassen, sondern sich zusammenzutun, miteinander zu reden und zu diskutieren und sich vor allen Dingen gegenseitig mit Respekt zu begegnen.

Fazit: Dirk Müller gelingt eine umfangreiche Zusammenstellung der wirtschaftlichen und politischen Situation rund um den Globus mit hilfreichen Erläuterungen und Einzelinformationen, die es in dieser kompakten Form sonst nicht gibt. Er beschreibt, was aktuell und in naher Zukunft in Politik und Wirtschaft geschehen wird und welchen direkten Einfluss das auf unser aller Leben hat. Jeder, der verstehen will, was auf der Welt vor sich geht, sollte dieses Buch gelesen haben – auch wenn es einem mit Blick auf die düsteren Aussichten gewiss schlaflose Nächte bereitet.

Bibliographische Angaben
Dirk Müller: Machtbeben. Die Welt vor der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten – Hintergründe, Risiken, Chancen
Heyne Verlag, 2018, 352 Seiten
ISBN: 978-3-543-20489-8

Verstehen, was auf der Welt vor sich geht

Verstehen, was auf der Welt vor sich geht
Rezension Gabor Steingart „Weltbeben – Leben im Zeitalter der Überforderung“

Die Welt ist verrückt geworden, das denken wohl die meisten Menschen angesichts von Krieg und Terror, politischen und wirtschaftlichen Skadalen und anderen alltäglichen Unabwägbarkeiten. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ aber ist ungemein kompliziert, so kompliziert wie die Welt selbst. Gabor Steingart ist es mit seinem Buch „Weltbeben – Leben im Zeitalter der Überforderung“ gelungen, die scheinbar unentwirrbaren Zusammenhänge von Politik und Wirtschaft aufzuräufeln und seinen Lesern mit klaren Worten gut nachvollziehbar offenzulegen. Er beschreibt die „Besinnungslosigkeiten des ökonomischen Größenwahns“, die Instrumente der Manipulation, mit denen uns die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft hinters Licht führen und wie sie statt nach Lösungen zu suchen, medientaugliche Geschichten erzählen. „Die Eliten kultivieren das Weghören“, konstatiert Steingart und hält den großen Knall für möglich. Aber, da ist er sicher, die Phänomene seien vom Menschen gemacht und könnten deshalb auch verändert werden. Deshalb schließt seine Analyse mit „einer hohen Dosis Zuversicht“, die allerdings nach der Lektüre des Buches nicht von jedem geteilt werden wird.

Steingarts Weltenschau beginnt mit der Überforderung und Selbstüberschätzung Amerikas. Amerika beschwört seine Größe und Einzigartigkeit, sieht sich als unverzichtbare Weltmacht und kann nicht glauben, dass nicht alle Welt das genauso sieht. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg Amerika zur mächtigsten Nation der Welt auf und dominierte alle anderen Staaten politisch, wirtschaftlich und militärisch. Doch Amerika ist schon lange keine Schutzmacht und kein Garant für Sicherheit mehr. Die Amerikaner können sich aber nicht damit abfinden, dass ihre Kultur eben nicht universell ist. Aus den vielen Lektionen des Scheiterns hat Amerika nichts gelernt und „die Misserfolge haben die USA nicht demütig, sondern rachsüchtig gemacht“.

Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor Europa, das von den frühen Anfängen bis 1945 nur Krieg und Gräueltaten vorzuweisen hat. Keine Seuche habe je so viel Tod gebracht, wie die mörderische Kriegslust der europäischen Völker. Erst mit der Kapitulation von Hitler-Deutschland sei Europa zur Besinnung gekommen und habe die Europäische Union als „Besserungsanstalt für fehlgeleitete Patrioten“ begründet. Ziel war die Nation zu überwinden, um Krieg zu verhindern. Dieses vernünftige Unterfangen aber sei von machtbesessenen Bürokraten in Brüssel gekapert worden. Nationalstaat und Patriotismus seien so diskreditiert worden, dass sich heute niemand mehr wage, ihnen Bedeutung beizumessen. Das einst geplante Europa in Vielfalt werde von der „europäischen Normierungsanstalt“ in einen europäischen Einheitsstaat umgewandelt. Brüssel normiert alles, von der Glühbirne bis zum Menschen. „Das Europa der Brüsseler Apparate ist ein Monster“, schreibt Steingart. Ein Monster im Übrigen, das auch Pöstchen-Selbstbedienung zu besten Konditionen beinhaltet. Politiker, die Zuhause ihren Posten verloren haben, können in Brüssel. Luxemburg oder Strasburg ein zweites Leben beginnen, ohne je wieder einem aufmüpfigen Wähler ausgeliefert zu sein. Nur wollten die Menschen sich nicht länger in diesen Schmelztiegel geworfen sehen, der alles und jeden glatt zu schleifen versuche. Brexit und Flüchtlingskrise seien nur zwei der Sollbruchstellen, die die Überforderung deutlich machten. Die europäische Idee indes sei die wertvollste, die dieser Kontinent in den letzten 100 Jahren hervorgebracht habe. Sie ermutige auch zum Widerstand gegen dieses nur halbdemokratische System, das sich als alternativlos ausgebe.

Den weltweiten Terrorismus bezeichnet der Autor als neuen Krieg der religiös motivierten Terrornetzwerke gegen die westlichen Gesellschaften. Wobei in diesem Krieg nicht etwa die Neuordnung der Welt das Ziel sei, sondern ihre Erschütterung. Wir seien nicht Opfer, sondern Beteiligte dieses globalen Krieges. Und die Regierenden, die mit ihren öffentlichen Beileidsbekundungen für die Opfer nach einem Terroranschlag auch gleich die Grundlage für die nächste Attacke bereiteten, hätten keinen Plan, wie sie dem radikal-islamistischen Terror begegnen sollen, darum redeten sie ihn klein und unterschätzten ihn damit. Die globale Organisation des extremistischen Islam und sein kulturelles Hinterland, das bis tief in die deutsche Migrantenszene reiche, werde verharmlost. Die Ursache des Terrors sieht Steingart in der jüngeren Geschichte der internationalen Politik, bei der es nicht um Demokratie und Menschenrechte, sondern einzig und allein um Interessen von Staaten gehe –im Nahen Osten um den Zugang zu Erdöl. Deshalb habe Amerika den Iran mit einem Staatsstreich zu seiner „Tankstelle“ gemacht. Während der durch den Staatsstreich an die Macht gekommene Shah Reza Pahlevi und seine Frau Farah Diba nach außen hin Glanz und Glamour verbreiteten, herrschte im Innern des Landes Folter und Unterdrückung. Der Terror habe viele Wurzeln, betont Steingart, ein dicker Strang aber führe direkt in die USA. Im Nahen Osten seien sich die Kulturkreise zu nahegekommen. Sie müssten jetzt mit Dialog wieder auf Abstand gebracht werden.

Weltweite Zerstörung löse nicht nur der Terrorismus, sondern auch die Dynamik des Kapitalismus aus. Das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte sei längst verschwunden. Und der Staat komme aus dem Retten, Regulieren und Bestrafen der Großkonzerne gar nicht mehr heraus. Die soziale Marktwirtschaft sei von den Grundlagen eines Ludwig Erhard Lichtjahre entfernt. Umsatz-, Steuer- und Sozialgesetze würden nicht mehr als Gesellschaftsvertrag verstanden, sondern als zu überwindende Zumutung. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts sei der Augenblicksgier verfallen, auch im Ausland. In der Finanzindustrie gar zahle man lieber Strafen, als sich an Gesetze zu halten. Und die Kreditsucht der Staaten sei dem Finanzsektor außerordentlich gut bekommen, Banken wiesen eine historische Prosperität auf. Notenbanken seien längst schon keine Währungshüter mehr, sondern Gelddruckmaschinen. Irgendwann, so Steingart, hätten die Staaten gar keine andere Wahl mehr, als die „steuerliche Leistungskraft der Leistungsfähigen“ und der Sparer anzuzapfen.

Mit Blick auf die digitale Gesellschaft rät Steingart den politischen und wirtschaftlichen Eliten lieber auf die Störgeräusche der Unzufriedenen zu hören, statt sie nur als Populismus abzutun. Industrie 4.0 bedeute für viele Menschen eine Erniedrigung und gerade gering Qualifizierte seien chancenlos. Letztlich aber verlören auch die Eliten mit der Digitalisierung ihr Monopol auf die Massenkommunikation. Konnten die Politiker ihre Überforderung bislang gut verbergen und so ihre Position sichern, ändere sich das mit der zunehmenden Zahl an Kommunikationskanälen. Als Gegenmaßnahme habe sich eine ganze Industrie von Beratern formiert, die das Image der Politiker aufbessern sollen, in dem sie schlicht die Wahrnehmung der Wähler manipulieren. (Siehe dazu auch die Artikel zu “Nudging” Teil I und II sowie die Rezension Thaler/Sunstein). „Wir alle sind die Kaninchen bei dem Versuch, diese psychologischen Techniken der Manipulation und des Verkaufens auf die Demokratie zu übertragen“, meint Steingart und nennt Bio, Öko und Nachhaltigkeit „Tarnnamen der Scharlatanerie“. Neue Europaabgeordnete etwa lernten in eigens etablierten Kursen, wie man den Wähler durch Sprache und nicht mit Taten beeinflusst. Der Ablenkungspolitiker hätte seinen großen Auftritt.

Der Autor glaubt, dass die Bürger dem Treiben der politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht länger gleichgültig zuschauen werden. Stattdessen werde er die bisherigen Eliten in ihrem Machtanspruch begrenzen, Transparenz, Mitbestimmung Teilhabe und Kommunikation einfordert und damit die Demokratisierung der Demokratie in Gang setzen.

Fazit: Gabor Steingart stellt Politik und Wirtschaft ein sehr schlechtes Zeugnis aus. In klaren Worten zählt er auf, was schief läuft bei uns und in der Welt, wobei er auch sein eigenes Umfeld – die Medien – nicht von harscher Kritik ausnimmt. Jeder Bereich hat offenbar seine eigenen Instrumente entwickelt, um die Überforderung zu vertuschen und diese Instrumente macht der Autor in seinem Buch sichtbar. Bei seinem Blick auf die Zukunft, für die er eine stille Revolution bereits in vollem Gange sieht, ist er aber wohl zu optimistisch. Denn die Menschen haben sich längst eingerichtet in der von Politik und Wirtschaft erzeugten, überaus bequemen Hängematte der großen Illusion. /sis

Bibliographische Angaben:
Gabor Steingart: Weltbeben. Leben im Zeitalter der Überforderung
Knaus Verlag, 2016, 240 Seiten
ISBN 978-3-8135-0519-1

Nudge Teil II: Wie die Bundesregierung “wirksam regieren” will

Nudge Teil II: Wie die Bundesregierung “wirksam regieren” will
Die Projektgruppe “Wirksam regieren” ist im Bundeskanzleramt angesiedelt.

“Wir wollen die Zielgenauigkeit und Wirksamkeit politischer Vorhaben dadurch erhöhen, dass wir politische Vorhaben stärker aus Sicht und mit Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger entwickeln.” So stand es im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom Dezember 2013. Zur Umsetzung dieser Vereinbarung unterstützt seit 2015 eine Projektgruppe „Wirksam regieren“ im Bundeskanzleramt Ministerien und Behörden dabei, „Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung und Verbesserung konkreter Vorhaben einzubinden“. Diese Projektgruppe testet – so jedenfalls steht es auf der Website “Wirksam regieren” – bei ausgewählten politischen Vorhaben alternative Gestaltungs- und Umsetzungsmöglichkeiten und das ganz praktisch, unter realistischen Bedingungen und im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern. (Website “Wirksam regieren”)

Das klingt erst einmal durchaus vernünftig. Was machen Gesetze, Vorschriften, Verwaltungsprozesse oder Formulare auch für einen Sinn, wenn sie am Alltag der Bürgerinnen und Bürger vorbeigehen? Dass dafür eine Projektgruppe eingesetzt wird, die den Willen und die Vorstellung der Bürger erkundet, scheint in diesem Zusammenhang zumindest wünschenswert. Wieso aber für eben diese Projektgruppe Experten mit psychologischem, verhaltensökonomischem beziehungsweise verhaltenswissenschaftlichem Hintergrund eingestellt wurden, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Diese Frage stellte die Bundestagesabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Britta Haßelmann, der Bundesregierung im April 2015 und fügte an: In welcher Weise sollen durch die Tätigkeit der genannten Experten beziehungsweise durch das Projekt “Wirksam regieren” Verhaltensänderungen in der Bevölkerung erzielt (Stichwort: Nudging) und der Deutsche Bundestag in die an die Bürgerinnen und Bürger adressierten Maßnahmen einbezogen werden? ( BT-Drucksache 18/4856). Die schriftliche Antwort kam am 24. April 2015. Staatsminister Dr. Helge Braun nannte das Ziel der Projektgruppe „im Zuge von Ex-ante-Wirksamkeitsanalysen empirische Erkenntnisse für die Beurteilung von alternativen Lösungsansätzen zu gewinnen und damit die Wirksamkeit politischer Maßnahmen zu erhöhen“. In erster Linie sollten Beratung, Aufklärung und Information gestärkt und öffentliche Dienstleistungen aus der Nutzerperspektive verbessert und vereinfacht werden. Die Nutzung wissenschaftlicher Expertise zur Erstellung von Gesetzen, Verordnungen, Normen und Anreizen sei gängige Praxis.

Alles ganz normal und unbedenklich? Tatsächlich übernimmt die Regierung Merkel damit etwas, was beispielsweise in Amerika und Großbritannien längst zum Alltag gehört: Das sogenannte “Nudging”, der berühmte Schubs in die richtige Richtung, wobei nicht definiert wird, was genau die richtige Richtung ist und ob das von jedem so „Angeschubsten“ gleichermaßen gewünscht wird. Kritiker sehen deshalb im “Nudging” eine Art Gängelei, bei der der Staat den Bürger elegant und ohne dass die Betroffenen davon etwas merken müssen, manipulieren und bevormunden kann.

Was ist Nudging denn nun? Eine besonders kluge Art, politische Ziele zu erreichen oder doch nur Manipulation? Was wissen die Bundestagesabgeordneten darüber? „besser klartext.de“ fragte nach bei den Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises Ludwigshafen, Frankenthal, Rhein-Platz-Kreis Torbjörn Kartes (CDU) und Doris Barnett (SPD).

CDU-Bundestagesabgeordneter Torbjörn Kartes (Foto: Privat)

1. Wissen Sie von der Expertengruppe? Was ist Ihre Meinung dazu?

Torbjörn Kartes: Ja, ich weiß von der Projektgruppe „Wirksam regieren“. Und ich halte es grundsätzlich für eine sinnvolle Idee, politische Maßnahmen und Regelungen auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Daraus kann man ableiten, was man in Zukunft anders machen kann, um noch mehr Menschen zu erreichen.

2. Welche Aufgaben genau hat diese Expertengruppe denn nun?

Torbjörn Kartes: Die Projektgruppe hat die Aufgabe, zu analysieren, wie der Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger von politischen Maßnahmen erhöht werden kann. Es geht dabei um Fragen, wie politische Ziele durch ihre konkrete Ausgestaltung am besten verwirklicht, wie ihre Sichtbarkeit erhöht oder die betreffenden Zielgruppen passgenauer angesprochen werden können. Ein Blick in den Koalitionsvertrag von 2013 lohnt sich: Die Regierung will die Wirksamkeit ihres Handelns steigern, also effizienter machen. Konkret ist davon die Rede, „die Kompetenzen und Kapazitäten der strategischen Vorausschau“ zu steigern. Dazu sollen Wirkungsanalysen und Evaluationen bestehender Gesetze genutzt werden. Vorhaben sollen „aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger“ und unter ihrer Beteiligung entwickelt werden. „Nudging“ ist deswegen in diesem Zusammenhang auch ein irreführender Begriff. Nehmen wir das Beispiel Förderprogramme: Hier werden Aspekte wie die Art, Dauer und Förderhöhe, aber auch die Sichtbarkeit von solchen Programmen untersucht. Es geht darum, welche Hürden es gibt, wenn die Politik mit einer bestimmten Maßnahme die Menschen erreichen will, und wie man sie umgehen kann. Es geht nicht darum, die Menschen zu einem gewissen Verhalten zu bewegen. Sie sollen vielmehr dazu befähigt werden, informierte Entscheidungen zu treffen.

3. Welche Erkenntnisse wurden bislang gewonnen, welche alternativen Lösungssätze gefunden?

Torbjörn Kartes: Die Projektgruppe verfolgt das Ziel, die Wirksamkeit politischer Maßnahmen zu erhöhen. Dafür müssen Maßnahmen mehr vom Bürger her gedacht werden. Deswegen werden Bürgerinnen und Bürger auch aktiv in die Arbeitsprozesse der Gruppe eingebunden. Am Anfang steht die Frage, ob auch wirklich alle Betroffenen von einer bestimmten Maßnahme profitieren. Dafür werden Verbraucher und Nutzer – eben die Bürgerinnen und Bürger – befragt. Wie nehmen sie die Maßnahme wahr, wie verständlich sind die Informationen, wie groß die Unterstützung auf Seiten der Behörden, was kann aus ihrer Sicht verbessert werden? Die Erkenntnisse werden von den Ministerien in ihrer Arbeit aufgenommen und bei der Entscheidungsfindung über die Umsetzung politischer Ziele berücksichtigt. Letztlich werden Informationen dadurch verständlicher, unnötig sperrige bürokratische Abläufe können schlanker gestaltet und somit Steuergelder gespart werden. Die Arbeitsweise der Projektgruppe wird auf den Internetseiten der Bundesregierung detailliert dargestellt. Sie möchten ein konkretes Beispiel der Arbeit der Projektgruppe? Erhöhung der Impfquote gegen Masern! Die Krankheit wird oft unterschätzt, die Impfquote ist gerade bei jüngeren Erwachsenen niedrig. In Zusammenarbeit mit dem Bundesgesundheitsministerium prüft die Projektgruppe alternative Zugänge zu Erwachsenen, wie auffällige Informationsbriefe zum Versand an die Versicherten, die Bereitstellung von Infomaterialien bei Hausärzten oder die direkte Ansprache beim Hausarztbesuch. Zur Förderung nachhaltigen Konsums diskutiert das Bundesumweltministerium zudem die Einführung eines Lebensdauerlabels für Elektrogeräte. „Wirksam regieren hat mit dem Ministerium daher eine Studie durchgeführt, in der die Situation in einem Online-Shop simuliert wurde. Das Ergebnis: Produkte mit längerer Lebensdauer wurden eher gekauft, wenn sie den gleichen Preis haben. Allerdings haben Verbraucherinnen und Verbraucher sich nicht unbedingt aufgrund einer höheren Lebensdauer für teurere Produkte entschieden. Wenn jedoch die jährlichen Gesamtkosten ebenfalls auf dem Label ausgewiesen wurden, wurde die Produktlebensdauer bei der Kaufentscheidung häufiger berücksichtigt.

4. Wie wird sichergestellt, dass diese Erkenntnisse nicht doch manipulativ eingesetzt werden?

Torbjörn Kartes: Wie gesagt: Es geht darum, politische Maßnahmen effizienter, verständlicher – einfach bürgernäher – zu gestalten.

5. Was hat der Einsatz der Expertengruppe bisher gekostet?

Torbjörn Kartes: Nach meinem Kenntnisstand beschränkt sich der Einsatz der Projektgruppe im Wesentlichen auf Personalkosten von 3,5 Planstellen. Ansonsten fallen zusätzlich projektbezogene Kosten an, die von den einzelnen Ressorts getragen werden.

 

SPD-Bundestagesabgeordnete Doris Barnett (Foto: Privat)

Doris Barnett hat die Fragen dem Bundeskanzleramt (Referat 612 – wirksam regieren / Abteilung 6 Politische Planung, Innovation und Digitalpolitik, Strategische IT-Steuerung) vorgelegt und folgende Antwort erhalten: „Zur Beantwortung der Fragen 1-3 verweisen wir auf unsere Webseite www.bundesregierung.de/wirksam-regieren, dort sind unsere Aufgaben sowie unsere konkreten Projekte im Detail beschrieben. Ebenso sind dort umfangreiche Berichte zu unseren abgeschlossenen Projekten abrufbar. Zur Frage 4 ist ebenfalls die Webseite zentral: Der Gefahr der Manipulation begegnen wir dadurch, dass wir bei unserer Arbeit in allen Belangen Transparenz herstellen. Sowohl die Themen unserer Projekte als auch das methodische Vorgehen sind offen zugänglich auf der Webseite dokumentiert und dadurch jederzeit nachvollziehbar. Zu Frage 5 bezüglich der Kosten können wir insofern keine Auskunft geben, als die Budgetverantwortung für die Projekte bei den durchführenden Ressorts liegt. Im Referat 612 – wirksam regieren selbst sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine projektspezifischen Kosten angefallen.“

Ergänzend schreibt Doris Barnett: “Bereits 2012 hat die SPD mit ihren verbraucherpolitischen Leitlinien beschlossen, die Erkenntnisse der Verbraucherverhaltensforschung zu nutzen, um wirksame verbraucherpolitische Maßnahmen zu entwickeln. Nudging als verhaltensbasierter Ansatz kann in bestimmten Problemkonstellationen eine gesetzliche Regelung wie Verbot, Steuer oder Gebot überflüssig machen. Laut Umfragen (zum Beispiel der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in Zusammenarbeit mit dem Münster-Research-Institute aus Dezember 2016*) fühlen sich Verbraucher durch informations- und verhaltensbasierte Ansätze wesentlich weniger bevormundet als durch gesetzliche Maßnahmen. Im Hinblick auf politische Legitimität und auf gesellschaftliche Akzeptanz ist zu beachten, dass Nudges per Definition IMMER transparent und IMMER mit einer abweichenden Entscheidungsmöglichkeit für den Verbraucher eingesetzt werden müssen. Nudges sind immer fallspezifisch: Evidenzbasiert muss entschieden werden, ob eine Steuer, ein Gesetz, eine Infokampagne, ein neues Schulfach oder eben ein Nudge eingesetzt werden soll.”

* Die Studie “Das solltest du essen – Orientierung versus Bevormundung”, die der Verein “Die Lebensmittelwirtschaft”  in Kooperation mit Professor Dr. Peter
Kenning von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf durchgeführt hat, bietet eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme, ob und wie stark Verbraucher in Deutschland derzeit eine Bevormundung empfinden . 1000 Befragte haben im August 2016 für die erste deutschlandweite Studie zum Thema „Bevormundung“ Rede und
Antwort gestanden. Die vollständige Ergebnispräsentation und den Fragebogen zu dieser Studie zum Download gibt es hier: Studie

Weitere Artikel zum Thema “Nudging”:

Nudge Teil I: Nur ein Schubs in die richtige Richtung? hier

Nudge Teil III: Ausführliche Besprechung des Buches von Richard Thaler und Cass Sunstein: Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt hier

 

Nudge Teil I: Nur ein Schubs in die richtige Richtung?

Nudge Teil I: Nur ein Schubs in die richtige Richtung?

In Großbritannien bekommen die Bürger Post vom Finanzamt mit dem zwar freundlich formulierten, aber nicht unbedingt so freundlich gemeinten Hinweis, dass die Anwohner in der Nachbarschaft allesamt zuverlässig und pünktlich ihre Steuern bezahlen! Das macht ein schlechtes Gewissen und genau das soll es auch. Wer will schon schlechter dastehen als sein Nachbar? Und die Steuerbehörde muss gewiss nicht fürchten, dass sich die Bürger im betreffenden Wohngebiet darüber austauschen. Wer würde einen solchen Brief wohl vorzeigen? Nein, der kleine Schwindel fliegt nicht auf und die Steuerbehörde erreicht was sie will: Pünktliche Steuereingänge. Natürlich nennt das niemand „Lüge“ oder „Trick“ oder verweist in diesem Zusammenhang gar auf den unverblümten Einsatz von verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen, die nämlich diese Taktik von der reinen Wirtschafts- längst auch auf die Politik- und Verwaltungsebene befördert haben. Man nennt es „Anstupsen“, den Bürgern einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben, im Englischen wird dafür der Begriff „Nudging“ gebraucht.

Dass „Nudging“ nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Alltag und nicht zuletzt in der Politik funktioniert, haben der Wirtschaftswissenschaftler Richard H. Thaler und der Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein 2008 in ihrem Buch „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ beschrieben. Thaler gilt als der führende Verhaltensökonom und wurde 2017 mit dem Nobel-Preis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Und wie kommen nun die britischen Steuerbehörden dazu, einen solchen „Nudge“ einzusetzen? Die Regierung Großbritanniens machte sich kurzerhand die Erkenntnisse Thalers und Sunsteins zunutze und gründete 2010 das „Behavioural Insights Team“, besser bekannt als “Nudge Unit”, also eine „Einheit für Einsichten in das menschliche Verhalten“, die die freundlichen, aber manipulativen Zeilen für die Finanzbehörden ersann. Die Unit wurde später teilprivatisiert und berät heute Regierungen in aller Welt.

„Nudging“, das Anstoßen von Entscheidungen in die gewünschte Richtung, ist in vielen Ländern der Erde längst eine Selbstverständlichkeit. Auch in Deutschland hat die Methode Einzug in die Regierungsarbeit gehalten. 2015 wurde im Bundeskanzleramt – öffentlich kaum  beachtet – eine Arbeitsgruppe “Wirksam regieren” etabliert. Die dafür gesuchten drei Bewerber sollten unter anderem über hervorragende psychologische und verhaltenswissenschaftliche Kenntnisse verfügen. Wofür? Will die Bundesregierung jetzt auch nach Mitteln und Wegen suchen, wie sie die Bevölkerung auf sanfte, möglichst unmerkliche Art dazu bringen kann, das „Richtige“ zu tun? Wer legt fest, was das Richtige für wen ist? Wer garantiert den Bürgern, dass aus dem Anstupser nicht handfeste Manipulation wird?

Die Thesen von Thaler und Sunstein basieren auf der Annahme, dass jedes menschliche Wesen fehlerhaft ist und ganz und gar nicht immer das Richtige tut. Entscheidungen fällt der Mensch meist aus dem Bauch heraus und begründet sie im Nachgang gerne mit vielfach erprobten Faustregeln. Dabei erliegt er aber allgegenwärtigen Verführungen und nicht zuletzt der ureigenen Bequemlichkeit, man könnte auch Trägheit sagen. Thaler und Sunstein nennen das den Kampf zwischen dem weitsichtigen Planer und dem kurzsichtigen Macher in jedem von uns. Die Autoren belegen mit einer Vielzahl von Studien und anschaulichen Tests wie leicht der Mensch zu manipulieren ist. Jeder kennt beispielsweise das „Abo-Phänomen“. Das kostenlose Probeabo führt zu lebenslänglichem Bezug, weil man einfach zu faul ist, es zu kündigen. Die Menschen rauchen, obwohl sie genau wissen, wie schädlich das für die Gesundheit ist und von der Verführung durch Essen und dem damit verbundenen gesundheitsgefährdenden Übergewicht ganz zu schweigen. Nudging soll helfen, klügere Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel indem man Übergewichtigen einen kleineren Teller vorsetzt, der weitsichtige Planer, der gerne abnehmen möchte, hält den kurzsichtigen Macher, der nicht aufs Essen verzichten kann, mit diesem Trick – man könnte auch “Nudge” sagen – in Schach.

Wie einfach der Mensch zu beeinflussen ist, beweist allein schon ein Besuch im Supermarkt. Die Entscheidung, was eingekauft wird, hängt im Wesentlichen von der Präsentation ab. Jeder weiß inzwischen, dass billigere, qualitativ aber genauso gute Waren ganz weit unten oder hoch oben im Regal zu “suchen” sind – finden soll man sie ja möglichst gar nicht. Obst und Gemüse wirken durch entsprechende Beleuchtung frischer als sie sind und große Verpackungen täuschen viel Inhalt vor. Kleine aber feine Tricks, die der Lebensmittelindustrie seit Jahrzehnten zuverlässig Milliarden in die Kassen spülen. Obwohl der Verbraucher immer wieder darüber informiert wird, lässt er sich ein ums andere Mal zu falschen Kauf-“Entscheidungen” verführen.

Natürlich wecken solche Erkenntnisse auch politische Begehrlichkeiten. Was spricht dagegen, den Bürger mit sanften Schubsern dazu zu bringen, Energie zu sparen, fürs Alter vorzusorgen, mit dem Rauchen aufzuhören, sich gesünder zu ernähren oder eben pünktlich seine Steuern zu zahlen. Kleine Tricks statt harter Ge- und Verbote! Klingt doch erst einmal gut. Kritiker aber sehen im Nudging eine Form der Bevormundung. Der Staat kann seine Bürger mittels Nudging manipulieren, ganz ohne demokratische Kontrolle. Wer sollte ihn daran hindern, sich Bürger nach seiner Vorstellung zu formen?

Wie schon heute Verhaltenspsychologie auch bei uns in der Politik eingesetzt wird, zeigt der jüngste Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn aus der Freiwilligkeit der Organspende eine Pflicht zu machen. Bislang muss jeder Deutsche seine Bereitschaft zur Organspende erklären. Tut er das nicht, lehnt er sie automatisch ab. Jetzt wird an die Umkehr der bisherigen Praxis gedacht, die einfach auf die menschliche Trägheit setzt: Jeder ist Organspender, es sei denn, er widerspricht ausdrücklich. Da haben wir es, das „Abo-Phänomen“, auf das der Bundesgesundheitsminister hier spekuliert: Der Widerspruch bleibt Vorsatz, die Umsetzung lässt auf sich warten, im besten Fall bis zum Nimmerleinstag. Und nur so ist es gewollt! Die britischen Finanzbehörden machen sich übrigens die verhaltenwissenschaftliche Erkenntnis zu nutzen, dass der Einzelne dazu neigt, sich in Ansichten und Verhaltensweisen den Menschen in seiner Umgebung anzupassen. Selbst wenn er erkennt, dass die Gruppe sich irrt, unterwirft er sich lieber dem Gruppenzwang als anzuecken. Auch das erläutern Thaler und Sunstein in ihrem Buch ausführlich. Ein lesenswertes Buch für alle, die sich nicht länger ohne Gegenwehr den fortgesetzten Manipulationen von Wirtschaft, Politik und Umwelt aussetzen wollen.  /sis

 

 

 

Nudge Teil II: Wie die Bundesregierung “wirksam regieren” will. “besser-klartext.de” sprach darüber mit Bundestagsabgeordneten der Regierungsparteien CDU und SPD. hier

 

 

 

 

 

Nudge Teil III: Ausführliche Besprechung des Buches von Richard Thaler und Cass Sunstein: Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt hier

Mit Feigheit möglichst unbehelligt durchs Leben gehen!

Mit Feigheit möglichst unbehelligt durchs Leben gehen!

Es sind schon einige skurrile Tatbestände, die der bekannte Journalist und TV-Moderator in seinem neuesten Buch „Schluss mit euren ewigen Mogelpackungen. Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen“ auflistet. Von drei Bundestagsabgeordneten ist da die Rede, deren Amtszeit genau eine Woche betrug und für die der Steuerzahler runde 36.000 Euro berappen musste. Ein Bürgermeister wird zitiert, der auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise gesagt haben soll: „Jesus konnte die Zehntausend speisen, meine Gemeinde kann das nicht“. Der Kirchentag wird angeprangert, für den ein genderüberarbeitetes Liederbuch hermusste, das Kirchenlieder, die über Jahrhunderte Menschen in Krisensituationen Trost und Zuversicht gespendet haben, jetzt der Lächerlichkeit preisgibt. Peter Hahne sucht und findet in jeder Ecke unsere Landes Mogelpackungen, von kleinen Schummeleien bis hin zu den ganz großen Unwahrheiten, mit denen uns hauptsächlich Politik und Kirche hinters Licht zu führen sucht. Das beginnt bei der Flüchtlingskrise, in der Kritiker schlicht „einpacken“ konnten, führt über den Genderwahn, der aus so mancher gewachsenen Tradition und der einst so positiven Gleichstellung der Geschlechter einen schlechten Witz macht, schaut in die Gerichte, die für zulässig erachten, dass die Deutschen als „Köterrasse“ bezeichnet werden. Hahne findet harsche Worte insbesondere für die Kirchen, deren hohe Vertreter angeblich aus Toleranz vor einer Begegnung mit anderen Religionen ihr Kreuz ablegen oder mit einer scheußlichen Mischung aus Deutsch und Englisch versuchen, die Jugend zu ködern. Luther, so Hahne überzeugend, hat die Bibel ins Deutsche übersetzt, damit die Menschen mitreden können und nicht länger ausgegrenzt werden. Genau das tut die Kirche jetzt mit ihrem Denglisch-Schwachsinn, sie grenzt diejenigen aus, die kein Englisch können. Beispiel gefällig? Ein Angebot in Frankfurt trug den Titel „Help the Oma!“

Und der Staat? Er benutzt unsere Kinder als Versuchskaninchen, wenn er sie nach Gehör schreiben lehrt und die Menschen ihrem Schicksal überlässt, indem er nichts gegen die durch vorwiegend osteuropäische Banden organisierte Einbruchskriminalität tut. Statt endlich all die großen und wichtigen Aufgaben in unserem Land anzupacken, kümmert sich die Politik lieber um die gendergerechte Überarbeitung der Verkehrsordnung und die EU um das richtige Frittieren von Pommes! Deutschland, so Peter Hahnes klares Bekenntnis, ist ein Staat, der sich selbst verachtet. Und „niemand hat den Mumm, dem Mumpitz, dieser lächerlichen und vor allem Millionen teuren Infantilisierung abendländischen Kulturgutes ein Ende zu machen“, schreibt Hahne. Und das trifft weiß Gott nicht nur auf den Genderwahn zu.

Mein Fazit: „Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen“ ist eher Hoffnung als Realität. Tatsächlich aber dürfte Hahnes Beobachtung zutreffen, dass wir heutzutage versuchen, mit einer gehörigen Portion Feigheit möglichst unbehelligt durch Leben und Beruf zu kommen. Wir lassen uns nur allzu gerne für dumm verkaufen, das erspart eigenes Denken und Handeln. Dagegen kämpft Peter Hahne entschlossen und doch recht unterhaltsam mit seinem Buch an. Wirklich lesens- und vor allen Dingen überdenkenswert!

Bibliographische Angaben:

Peter Hahne
Schluss mit euren ewigen Mogelpackungen. Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen.
Bastei Lübbe, 128 Seiten, 2018
ISBN: 978-3-7857-2621-1

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