Entscheidungen erleichtern oder doch vorschreiben?

Entscheidungen erleichtern oder doch vorschreiben?
Nudge Teil III: Besprechung des Buches von Thaler und Sunstein „Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt

Es ist schon starker Tobak, womit der Wirtschaftswissenschaftler Richard H. Thaler und der Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein 2008 in ihrem Buch „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ die mangelnde Entscheidungsfähigkeit der Menschen begründen. Zumindest werden es die wenigsten Leute glauben wollen, wenn die beiden Autoren behaupten, dass der „normale“ Mensch bei komplexen Sachverhalten, deren Ergebnisse auch noch weit in der Zukunft liegen, überhaupt nicht in der Lage ist, die für ihn beste Entscheidung zu treffen. Darum ist es wichtig, passende Anreize zu setzen, die ihn in die richtige Richtung schubsen. Das Autorenduo erläutert das eindrucksvoll an ökonomischen Entscheidungen, etwa Altersvorsorge, Hypothekendarlehen und Kreditkarten, deren Bedingungen alles andere als leicht zu verstehen und langfristige Auswirkungen kaum vorhersehbar sind. Da hilft auch keine Vielzahl von Optionen. Jedenfalls dann nicht, wenn es sich um Menschen handelt, die leicht zu beeinflussen sind – die Autoren nennen sie „Humans“ -, und die sind im Gegensatz zu den „Econs“, die sich zu nichts zwingen lassen, eindeutig in der Mehrheit. Ein Econ ist der weitsichtige Planer, ein Human dagegen der kurzfristige Macher. Im Alltag geht es nun darum, Strategien zu entwickeln, wie der Planer den Macher in Schach halten kann.

Ursächlich für die Entscheidungsschwäche sind nach Thaler und Sunstein, die sich hierbei auf eine Vielzahl von Untersuchungen und Studien berufen, kurz zusammengefasst drei menschliche Charakterzüge: beschränkte Rationalität, mangelnde Selbstkontrolle und Empfänglichkeit für soziale Einflüsse. Diese drei quasi schon angeborenen Eigenschaften sind – verbunden mit einer gehörigen Portion Gier und Korruption – etwa auch die Ursachen für die Finanzkrise 2008 gewesen, behaupten die Autoren. Thaler und Sunstein führen auf rund 390 Seiten zahlreiche Argumente an, warum der Mensch mit passenden Anreizen in die „richtige“ Richtung geschubst werden muss, das aber offen und ehrlich und unter Beibehaltung einer größtmöglichen Entscheidungsfreiheit. Sie nennen das „libertären Paternalismus“, eine auf den ersten Blick unvereinbare Paarung aus „freier Wille“ und „Bevormundung“. Denn unter Paternalismus versteht man eine Herrschaftsordnung, die auf Autorität gründet. „Libertäre Paternalisten“ hingegen wollen durch passende Anreize dafür sorgen, dass die Menschen länger, gesünder und besser leben. Das halten die Autoren für erforderlich, weil der Mensch in erster Linie träge ist und Entscheidungen gar nicht oder aus dem Bauch heraus trifft. Die Grundlage für diese meist schlechten Entscheidungen sind zum Teil über Generationen weitergereichte Faustregeln. Hinzu kommen neben gewichtigen, sozialen Einflüssen – darunter der berühmte Gruppenzwang – ein unrealistischer Optimismus, die Angst vor Verlust, Gedankenlosigkeit und die Bereitschaft sich verführen zu lassen. Immer und überall will der Mensch gefallen, bloß nicht anecken! Er passt sich lieber der Mehrheit an, auch wenn das für ihn selbst von Nachteil ist.  Deshalb haben Gruppen, die eine Meinung hartnäckig vertreten, eine gehörige Anziehungskraft. Außerdem halten Menschen gerne an einer einmal etablierten Meinung oder Tradition fest, weil sie denken, andere tun das auch. Es ist ihnen wichtig, was andere von ihnen denken und sie passen sich den Erwartungen anderer an. Das aber ist falsch, denn, so behaupten die Autoren, andere widmen einem gar nicht so viel Aufmerksamkeit, wie man selbst annimmt. Für andere ist es beispielsweise ganz und gar nicht interessant, wie wir aussehen. Deshalb, so ihr Fazit, kann man auch ruhig mit einem bekleckerten Hemd aus der Mittagspause kommen, niemand wird es merken.

Soziale Einflüsse wirken sich also besonders stark auf das aus, was wir denken, sagen oder tun! Und genau dieser Umstand kann wunderbar dazu benutzt werden, uns bei unseren Handlungen und Entscheidungen in eine bestimmte Richtung zu schubsen. Grundsätzlich neigen Menschen dazu, sich für die Option zu entscheiden, die am wenigsten Aufwand erfordert. Man geht den einfachsten Weg und hält an ihm fest, auch wenn er sich als unbrauchbar erwiesen hat. Deshalb ist größtmögliche Wahlfreiheit nicht immer oberstes Gebot, vielmehr ist es nützlich, Empfehlungen auszusprechen, insbesondere bei den bereits erwähnten komplexen Situationen. Dieses „Schubsen in die richtige Richtung“ raten Thaler und Sunstein ganz offen auch der Politik, bestehen dabei aber auf Transparenz. Die Maxime bei Nudges jeder Art ist Öffentlichkeit und Respekt als Sicherung gegen Manipulation. Die Autoren geben dabei durchaus zu, dass es Grenzfälle gibt und unterschwelliges Verhalten – wie aus unterschwelliger Werbung wohlbekannt – abzulehnen ist. Solches Verhalten nämlich ist unmöglich zu kontrollieren. “Nudges” – übersetzen wir den Begriff der Einfachheit halber mit “einflussnehmende Maßnahmen” – gibt es sowieso schon lange und überall. Sie können bei komplexen Fragen, die etwa ein spezielles Fachwissen voraussetzen, durchaus helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. Dabei dürfen aber Inkompetenz und Eigennutz nicht ins Spiel kommen. Wie dies aber verhindert werden kann, darauf haben Thaler und Sunstein leider keine überzeugende Antwort.

Mein Fazit: Das Buch ist eine hochinteressante Zusammenstellung all der Schwächen, denen wir alle tagtäglich begegnen und gegen die wir uns nicht wehren können, weil wir sie im entscheidenden Augenblick gar nicht bewusst wahrnehmen. Vielleicht können wir uns aber besser gegen ungewollte Beeinflussung – auch und gerade durch Nudges – schützen, wenn wir uns dieser Schwächen stellen. Nicht nur dafür liefert das Buch wertvolle Hilfestellung.

Bibliografische Angaben:
Richard H. Thaler, Cass R. Sunstein: Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt
13. Auflage, Ullstein Verlag 2010, 389 Seiten, ISBN 978-3-548-37366-9

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Die Projektgruppe “Wirksam regieren” ist im Bundeskanzleramt angesiedelt.

“Wir wollen die Zielgenauigkeit und Wirksamkeit politischer Vorhaben dadurch erhöhen, dass wir politische Vorhaben stärker aus Sicht und mit Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger entwickeln.” So stand es im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom Dezember 2013. Zur Umsetzung dieser Vereinbarung unterstützt seit 2015 eine Projektgruppe „Wirksam regieren“ im Bundeskanzleramt Ministerien und Behörden dabei, „Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung und Verbesserung konkreter Vorhaben einzubinden“. Diese Projektgruppe testet – so jedenfalls steht es auf der Website “Wirksam regieren” – bei ausgewählten politischen Vorhaben alternative Gestaltungs- und Umsetzungsmöglichkeiten und das ganz praktisch, unter realistischen Bedingungen und im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern. (Website “Wirksam regieren”)

Das klingt erst einmal durchaus vernünftig. Was machen Gesetze, Vorschriften, Verwaltungsprozesse oder Formulare auch für einen Sinn, wenn sie am Alltag der Bürgerinnen und Bürger vorbeigehen? Dass dafür eine Projektgruppe eingesetzt wird, die den Willen und die Vorstellung der Bürger erkundet, scheint in diesem Zusammenhang zumindest wünschenswert. Wieso aber für eben diese Projektgruppe Experten mit psychologischem, verhaltensökonomischem beziehungsweise verhaltenswissenschaftlichem Hintergrund eingestellt wurden, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Diese Frage stellte die Bundestagesabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Britta Haßelmann, der Bundesregierung im April 2015 und fügte an: In welcher Weise sollen durch die Tätigkeit der genannten Experten beziehungsweise durch das Projekt “Wirksam regieren” Verhaltensänderungen in der Bevölkerung erzielt (Stichwort: Nudging) und der Deutsche Bundestag in die an die Bürgerinnen und Bürger adressierten Maßnahmen einbezogen werden? ( BT-Drucksache 18/4856). Die schriftliche Antwort kam am 24. April 2015. Staatsminister Dr. Helge Braun nannte das Ziel der Projektgruppe „im Zuge von Ex-ante-Wirksamkeitsanalysen empirische Erkenntnisse für die Beurteilung von alternativen Lösungsansätzen zu gewinnen und damit die Wirksamkeit politischer Maßnahmen zu erhöhen“. In erster Linie sollten Beratung, Aufklärung und Information gestärkt und öffentliche Dienstleistungen aus der Nutzerperspektive verbessert und vereinfacht werden. Die Nutzung wissenschaftlicher Expertise zur Erstellung von Gesetzen, Verordnungen, Normen und Anreizen sei gängige Praxis.

Alles ganz normal und unbedenklich? Tatsächlich übernimmt die Regierung Merkel damit etwas, was beispielsweise in Amerika und Großbritannien längst zum Alltag gehört: Das sogenannte “Nudging”, der berühmte Schubs in die richtige Richtung, wobei nicht definiert wird, was genau die richtige Richtung ist und ob das von jedem so „Angeschubsten“ gleichermaßen gewünscht wird. Kritiker sehen deshalb im “Nudging” eine Art Gängelei, bei der der Staat den Bürger elegant und ohne dass die Betroffenen davon etwas merken müssen, manipulieren und bevormunden kann.

Was ist Nudging denn nun? Eine besonders kluge Art, politische Ziele zu erreichen oder doch nur Manipulation? Was wissen die Bundestagesabgeordneten darüber? „besser klartext.de“ fragte nach bei den Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises Ludwigshafen, Frankenthal, Rhein-Platz-Kreis Torbjörn Kartes (CDU) und Doris Barnett (SPD).

CDU-Bundestagesabgeordneter Torbjörn Kartes (Foto: Privat)

1. Wissen Sie von der Expertengruppe? Was ist Ihre Meinung dazu?

Torbjörn Kartes: Ja, ich weiß von der Projektgruppe „Wirksam regieren“. Und ich halte es grundsätzlich für eine sinnvolle Idee, politische Maßnahmen und Regelungen auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Daraus kann man ableiten, was man in Zukunft anders machen kann, um noch mehr Menschen zu erreichen.

2. Welche Aufgaben genau hat diese Expertengruppe denn nun?

Torbjörn Kartes: Die Projektgruppe hat die Aufgabe, zu analysieren, wie der Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger von politischen Maßnahmen erhöht werden kann. Es geht dabei um Fragen, wie politische Ziele durch ihre konkrete Ausgestaltung am besten verwirklicht, wie ihre Sichtbarkeit erhöht oder die betreffenden Zielgruppen passgenauer angesprochen werden können. Ein Blick in den Koalitionsvertrag von 2013 lohnt sich: Die Regierung will die Wirksamkeit ihres Handelns steigern, also effizienter machen. Konkret ist davon die Rede, „die Kompetenzen und Kapazitäten der strategischen Vorausschau“ zu steigern. Dazu sollen Wirkungsanalysen und Evaluationen bestehender Gesetze genutzt werden. Vorhaben sollen „aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger“ und unter ihrer Beteiligung entwickelt werden. „Nudging“ ist deswegen in diesem Zusammenhang auch ein irreführender Begriff. Nehmen wir das Beispiel Förderprogramme: Hier werden Aspekte wie die Art, Dauer und Förderhöhe, aber auch die Sichtbarkeit von solchen Programmen untersucht. Es geht darum, welche Hürden es gibt, wenn die Politik mit einer bestimmten Maßnahme die Menschen erreichen will, und wie man sie umgehen kann. Es geht nicht darum, die Menschen zu einem gewissen Verhalten zu bewegen. Sie sollen vielmehr dazu befähigt werden, informierte Entscheidungen zu treffen.

3. Welche Erkenntnisse wurden bislang gewonnen, welche alternativen Lösungssätze gefunden?

Torbjörn Kartes: Die Projektgruppe verfolgt das Ziel, die Wirksamkeit politischer Maßnahmen zu erhöhen. Dafür müssen Maßnahmen mehr vom Bürger her gedacht werden. Deswegen werden Bürgerinnen und Bürger auch aktiv in die Arbeitsprozesse der Gruppe eingebunden. Am Anfang steht die Frage, ob auch wirklich alle Betroffenen von einer bestimmten Maßnahme profitieren. Dafür werden Verbraucher und Nutzer – eben die Bürgerinnen und Bürger – befragt. Wie nehmen sie die Maßnahme wahr, wie verständlich sind die Informationen, wie groß die Unterstützung auf Seiten der Behörden, was kann aus ihrer Sicht verbessert werden? Die Erkenntnisse werden von den Ministerien in ihrer Arbeit aufgenommen und bei der Entscheidungsfindung über die Umsetzung politischer Ziele berücksichtigt. Letztlich werden Informationen dadurch verständlicher, unnötig sperrige bürokratische Abläufe können schlanker gestaltet und somit Steuergelder gespart werden. Die Arbeitsweise der Projektgruppe wird auf den Internetseiten der Bundesregierung detailliert dargestellt. Sie möchten ein konkretes Beispiel der Arbeit der Projektgruppe? Erhöhung der Impfquote gegen Masern! Die Krankheit wird oft unterschätzt, die Impfquote ist gerade bei jüngeren Erwachsenen niedrig. In Zusammenarbeit mit dem Bundesgesundheitsministerium prüft die Projektgruppe alternative Zugänge zu Erwachsenen, wie auffällige Informationsbriefe zum Versand an die Versicherten, die Bereitstellung von Infomaterialien bei Hausärzten oder die direkte Ansprache beim Hausarztbesuch. Zur Förderung nachhaltigen Konsums diskutiert das Bundesumweltministerium zudem die Einführung eines Lebensdauerlabels für Elektrogeräte. „Wirksam regieren hat mit dem Ministerium daher eine Studie durchgeführt, in der die Situation in einem Online-Shop simuliert wurde. Das Ergebnis: Produkte mit längerer Lebensdauer wurden eher gekauft, wenn sie den gleichen Preis haben. Allerdings haben Verbraucherinnen und Verbraucher sich nicht unbedingt aufgrund einer höheren Lebensdauer für teurere Produkte entschieden. Wenn jedoch die jährlichen Gesamtkosten ebenfalls auf dem Label ausgewiesen wurden, wurde die Produktlebensdauer bei der Kaufentscheidung häufiger berücksichtigt.

4. Wie wird sichergestellt, dass diese Erkenntnisse nicht doch manipulativ eingesetzt werden?

Torbjörn Kartes: Wie gesagt: Es geht darum, politische Maßnahmen effizienter, verständlicher – einfach bürgernäher – zu gestalten.

5. Was hat der Einsatz der Expertengruppe bisher gekostet?

Torbjörn Kartes: Nach meinem Kenntnisstand beschränkt sich der Einsatz der Projektgruppe im Wesentlichen auf Personalkosten von 3,5 Planstellen. Ansonsten fallen zusätzlich projektbezogene Kosten an, die von den einzelnen Ressorts getragen werden.

 

SPD-Bundestagesabgeordnete Doris Barnett (Foto: Privat)

Doris Barnett hat die Fragen dem Bundeskanzleramt (Referat 612 – wirksam regieren / Abteilung 6 Politische Planung, Innovation und Digitalpolitik, Strategische IT-Steuerung) vorgelegt und folgende Antwort erhalten: „Zur Beantwortung der Fragen 1-3 verweisen wir auf unsere Webseite www.bundesregierung.de/wirksam-regieren, dort sind unsere Aufgaben sowie unsere konkreten Projekte im Detail beschrieben. Ebenso sind dort umfangreiche Berichte zu unseren abgeschlossenen Projekten abrufbar. Zur Frage 4 ist ebenfalls die Webseite zentral: Der Gefahr der Manipulation begegnen wir dadurch, dass wir bei unserer Arbeit in allen Belangen Transparenz herstellen. Sowohl die Themen unserer Projekte als auch das methodische Vorgehen sind offen zugänglich auf der Webseite dokumentiert und dadurch jederzeit nachvollziehbar. Zu Frage 5 bezüglich der Kosten können wir insofern keine Auskunft geben, als die Budgetverantwortung für die Projekte bei den durchführenden Ressorts liegt. Im Referat 612 – wirksam regieren selbst sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine projektspezifischen Kosten angefallen.“

Ergänzend schreibt Doris Barnett: “Bereits 2012 hat die SPD mit ihren verbraucherpolitischen Leitlinien beschlossen, die Erkenntnisse der Verbraucherverhaltensforschung zu nutzen, um wirksame verbraucherpolitische Maßnahmen zu entwickeln. Nudging als verhaltensbasierter Ansatz kann in bestimmten Problemkonstellationen eine gesetzliche Regelung wie Verbot, Steuer oder Gebot überflüssig machen. Laut Umfragen (zum Beispiel der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in Zusammenarbeit mit dem Münster-Research-Institute aus Dezember 2016*) fühlen sich Verbraucher durch informations- und verhaltensbasierte Ansätze wesentlich weniger bevormundet als durch gesetzliche Maßnahmen. Im Hinblick auf politische Legitimität und auf gesellschaftliche Akzeptanz ist zu beachten, dass Nudges per Definition IMMER transparent und IMMER mit einer abweichenden Entscheidungsmöglichkeit für den Verbraucher eingesetzt werden müssen. Nudges sind immer fallspezifisch: Evidenzbasiert muss entschieden werden, ob eine Steuer, ein Gesetz, eine Infokampagne, ein neues Schulfach oder eben ein Nudge eingesetzt werden soll.”

* Die Studie “Das solltest du essen – Orientierung versus Bevormundung”, die der Verein “Die Lebensmittelwirtschaft”  in Kooperation mit Professor Dr. Peter
Kenning von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf durchgeführt hat, bietet eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme, ob und wie stark Verbraucher in Deutschland derzeit eine Bevormundung empfinden . 1000 Befragte haben im August 2016 für die erste deutschlandweite Studie zum Thema „Bevormundung“ Rede und
Antwort gestanden. Die vollständige Ergebnispräsentation und den Fragebogen zu dieser Studie zum Download gibt es hier: Studie

Weitere Artikel zum Thema “Nudging”:

Nudge Teil I: Nur ein Schubs in die richtige Richtung? hier

Nudge Teil III: Ausführliche Besprechung des Buches von Richard Thaler und Cass Sunstein: Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt hier

 

Nudge Teil I: Nur ein Schubs in die richtige Richtung?

Nudge Teil I: Nur ein Schubs in die richtige Richtung?

In Großbritannien bekommen die Bürger Post vom Finanzamt mit dem zwar freundlich formulierten, aber nicht unbedingt so freundlich gemeinten Hinweis, dass die Anwohner in der Nachbarschaft allesamt zuverlässig und pünktlich ihre Steuern bezahlen! Das macht ein schlechtes Gewissen und genau das soll es auch. Wer will schon schlechter dastehen als sein Nachbar? Und die Steuerbehörde muss gewiss nicht fürchten, dass sich die Bürger im betreffenden Wohngebiet darüber austauschen. Wer würde einen solchen Brief wohl vorzeigen? Nein, der kleine Schwindel fliegt nicht auf und die Steuerbehörde erreicht was sie will: Pünktliche Steuereingänge. Natürlich nennt das niemand „Lüge“ oder „Trick“ oder verweist in diesem Zusammenhang gar auf den unverblümten Einsatz von verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen, die nämlich diese Taktik von der reinen Wirtschafts- längst auch auf die Politik- und Verwaltungsebene befördert haben. Man nennt es „Anstupsen“, den Bürgern einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben, im Englischen wird dafür der Begriff „Nudging“ gebraucht.

Dass „Nudging“ nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Alltag und nicht zuletzt in der Politik funktioniert, haben der Wirtschaftswissenschaftler Richard H. Thaler und der Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein 2008 in ihrem Buch „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ beschrieben. Thaler gilt als der führende Verhaltensökonom und wurde 2017 mit dem Nobel-Preis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Und wie kommen nun die britischen Steuerbehörden dazu, einen solchen „Nudge“ einzusetzen? Die Regierung Großbritanniens machte sich kurzerhand die Erkenntnisse Thalers und Sunsteins zunutze und gründete 2010 das „Behavioural Insights Team“, besser bekannt als “Nudge Unit”, also eine „Einheit für Einsichten in das menschliche Verhalten“, die die freundlichen, aber manipulativen Zeilen für die Finanzbehörden ersann. Die Unit wurde später teilprivatisiert und berät heute Regierungen in aller Welt.

„Nudging“, das Anstoßen von Entscheidungen in die gewünschte Richtung, ist in vielen Ländern der Erde längst eine Selbstverständlichkeit. Auch in Deutschland hat die Methode Einzug in die Regierungsarbeit gehalten. 2015 wurde im Bundeskanzleramt – öffentlich kaum  beachtet – eine Arbeitsgruppe “Wirksam regieren” etabliert. Die dafür gesuchten drei Bewerber sollten unter anderem über hervorragende psychologische und verhaltenswissenschaftliche Kenntnisse verfügen. Wofür? Will die Bundesregierung jetzt auch nach Mitteln und Wegen suchen, wie sie die Bevölkerung auf sanfte, möglichst unmerkliche Art dazu bringen kann, das „Richtige“ zu tun? Wer legt fest, was das Richtige für wen ist? Wer garantiert den Bürgern, dass aus dem Anstupser nicht handfeste Manipulation wird?

Die Thesen von Thaler und Sunstein basieren auf der Annahme, dass jedes menschliche Wesen fehlerhaft ist und ganz und gar nicht immer das Richtige tut. Entscheidungen fällt der Mensch meist aus dem Bauch heraus und begründet sie im Nachgang gerne mit vielfach erprobten Faustregeln. Dabei erliegt er aber allgegenwärtigen Verführungen und nicht zuletzt der ureigenen Bequemlichkeit, man könnte auch Trägheit sagen. Thaler und Sunstein nennen das den Kampf zwischen dem weitsichtigen Planer und dem kurzsichtigen Macher in jedem von uns. Die Autoren belegen mit einer Vielzahl von Studien und anschaulichen Tests wie leicht der Mensch zu manipulieren ist. Jeder kennt beispielsweise das „Abo-Phänomen“. Das kostenlose Probeabo führt zu lebenslänglichem Bezug, weil man einfach zu faul ist, es zu kündigen. Die Menschen rauchen, obwohl sie genau wissen, wie schädlich das für die Gesundheit ist und von der Verführung durch Essen und dem damit verbundenen gesundheitsgefährdenden Übergewicht ganz zu schweigen. Nudging soll helfen, klügere Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel indem man Übergewichtigen einen kleineren Teller vorsetzt, der weitsichtige Planer, der gerne abnehmen möchte, hält den kurzsichtigen Macher, der nicht aufs Essen verzichten kann, mit diesem Trick – man könnte auch “Nudge” sagen – in Schach.

Wie einfach der Mensch zu beeinflussen ist, beweist allein schon ein Besuch im Supermarkt. Die Entscheidung, was eingekauft wird, hängt im Wesentlichen von der Präsentation ab. Jeder weiß inzwischen, dass billigere, qualitativ aber genauso gute Waren ganz weit unten oder hoch oben im Regal zu “suchen” sind – finden soll man sie ja möglichst gar nicht. Obst und Gemüse wirken durch entsprechende Beleuchtung frischer als sie sind und große Verpackungen täuschen viel Inhalt vor. Kleine aber feine Tricks, die der Lebensmittelindustrie seit Jahrzehnten zuverlässig Milliarden in die Kassen spülen. Obwohl der Verbraucher immer wieder darüber informiert wird, lässt er sich ein ums andere Mal zu falschen Kauf-“Entscheidungen” verführen.

Natürlich wecken solche Erkenntnisse auch politische Begehrlichkeiten. Was spricht dagegen, den Bürger mit sanften Schubsern dazu zu bringen, Energie zu sparen, fürs Alter vorzusorgen, mit dem Rauchen aufzuhören, sich gesünder zu ernähren oder eben pünktlich seine Steuern zu zahlen. Kleine Tricks statt harter Ge- und Verbote! Klingt doch erst einmal gut. Kritiker aber sehen im Nudging eine Form der Bevormundung. Der Staat kann seine Bürger mittels Nudging manipulieren, ganz ohne demokratische Kontrolle. Wer sollte ihn daran hindern, sich Bürger nach seiner Vorstellung zu formen?

Wie schon heute Verhaltenspsychologie auch bei uns in der Politik eingesetzt wird, zeigt der jüngste Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn aus der Freiwilligkeit der Organspende eine Pflicht zu machen. Bislang muss jeder Deutsche seine Bereitschaft zur Organspende erklären. Tut er das nicht, lehnt er sie automatisch ab. Jetzt wird an die Umkehr der bisherigen Praxis gedacht, die einfach auf die menschliche Trägheit setzt: Jeder ist Organspender, es sei denn, er widerspricht ausdrücklich. Da haben wir es, das „Abo-Phänomen“, auf das der Bundesgesundheitsminister hier spekuliert: Der Widerspruch bleibt Vorsatz, die Umsetzung lässt auf sich warten, im besten Fall bis zum Nimmerleinstag. Und nur so ist es gewollt! Die britischen Finanzbehörden machen sich übrigens die verhaltenwissenschaftliche Erkenntnis zu nutzen, dass der Einzelne dazu neigt, sich in Ansichten und Verhaltensweisen den Menschen in seiner Umgebung anzupassen. Selbst wenn er erkennt, dass die Gruppe sich irrt, unterwirft er sich lieber dem Gruppenzwang als anzuecken. Auch das erläutern Thaler und Sunstein in ihrem Buch ausführlich. Ein lesenswertes Buch für alle, die sich nicht länger ohne Gegenwehr den fortgesetzten Manipulationen von Wirtschaft, Politik und Umwelt aussetzen wollen.  /sis

 

 

 

Nudge Teil II: Wie die Bundesregierung “wirksam regieren” will. “besser-klartext.de” sprach darüber mit Bundestagsabgeordneten der Regierungsparteien CDU und SPD. hier

 

 

 

 

 

Nudge Teil III: Ausführliche Besprechung des Buches von Richard Thaler und Cass Sunstein: Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt hier

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