Nudge Teil I: Nur ein Schubs in die richtige Richtung?

In Großbritannien bekommen die Bürger Post vom Finanzamt mit dem zwar freundlich formulierten, aber nicht unbedingt so freundlich gemeinten Hinweis, dass die Anwohner in der Nachbarschaft allesamt zuverlässig und pünktlich ihre Steuern bezahlen! Das macht ein schlechtes Gewissen und genau das soll es auch. Wer will schon schlechter dastehen als sein Nachbar? Und die Steuerbehörde muss gewiss nicht fürchten, dass sich die Bürger im betreffenden Wohngebiet darüber austauschen. Wer würde einen solchen Brief wohl vorzeigen? Nein, der kleine Schwindel fliegt nicht auf und die Steuerbehörde erreicht was sie will: Pünktliche Steuereingänge. Natürlich nennt das niemand „Lüge“ oder „Trick“ oder verweist in diesem Zusammenhang gar auf den unverblümten Einsatz von verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen, die nämlich diese Taktik von der reinen Wirtschafts- längst auch auf die Politik- und Verwaltungsebene befördert haben. Man nennt es „Anstupsen“, den Bürgern einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben, im Englischen wird dafür der Begriff „Nudging“ gebraucht.

Dass „Nudging“ nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Alltag und nicht zuletzt in der Politik funktioniert, haben der Wirtschaftswissenschaftler Richard H. Thaler und der Rechtswissenschaftler Cass R. Sunstein 2008 in ihrem Buch „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ beschrieben. Thaler gilt als der führende Verhaltensökonom und wurde 2017 mit dem Nobel-Preis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Und wie kommen nun die britischen Steuerbehörden dazu, einen solchen „Nudge“ einzusetzen? Die Regierung Großbritanniens machte sich kurzerhand die Erkenntnisse Thalers und Sunsteins zunutze und gründete 2010 das „Behavioural Insights Team“, besser bekannt als “Nudge Unit”, also eine „Einheit für Einsichten in das menschliche Verhalten“, die die freundlichen, aber manipulativen Zeilen für die Finanzbehörden ersann. Die Unit wurde später teilprivatisiert und berät heute Regierungen in aller Welt.

„Nudging“, das Anstoßen von Entscheidungen in die gewünschte Richtung, ist in vielen Ländern der Erde längst eine Selbstverständlichkeit. Auch in Deutschland hat die Methode Einzug in die Regierungsarbeit gehalten. 2015 wurde im Bundeskanzleramt – öffentlich kaum  beachtet – eine Arbeitsgruppe “Wirksam regieren” etabliert. Die dafür gesuchten drei Bewerber sollten unter anderem über hervorragende psychologische und verhaltenswissenschaftliche Kenntnisse verfügen. Wofür? Will die Bundesregierung jetzt auch nach Mitteln und Wegen suchen, wie sie die Bevölkerung auf sanfte, möglichst unmerkliche Art dazu bringen kann, das „Richtige“ zu tun? Wer legt fest, was das Richtige für wen ist? Wer garantiert den Bürgern, dass aus dem Anstupser nicht handfeste Manipulation wird?

Die Thesen von Thaler und Sunstein basieren auf der Annahme, dass jedes menschliche Wesen fehlerhaft ist und ganz und gar nicht immer das Richtige tut. Entscheidungen fällt der Mensch meist aus dem Bauch heraus und begründet sie im Nachgang gerne mit vielfach erprobten Faustregeln. Dabei erliegt er aber allgegenwärtigen Verführungen und nicht zuletzt der ureigenen Bequemlichkeit, man könnte auch Trägheit sagen. Thaler und Sunstein nennen das den Kampf zwischen dem weitsichtigen Planer und dem kurzsichtigen Macher in jedem von uns. Die Autoren belegen mit einer Vielzahl von Studien und anschaulichen Tests wie leicht der Mensch zu manipulieren ist. Jeder kennt beispielsweise das „Abo-Phänomen“. Das kostenlose Probeabo führt zu lebenslänglichem Bezug, weil man einfach zu faul ist, es zu kündigen. Die Menschen rauchen, obwohl sie genau wissen, wie schädlich das für die Gesundheit ist und von der Verführung durch Essen und dem damit verbundenen gesundheitsgefährdenden Übergewicht ganz zu schweigen. Nudging soll helfen, klügere Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel indem man Übergewichtigen einen kleineren Teller vorsetzt, der weitsichtige Planer, der gerne abnehmen möchte, hält den kurzsichtigen Macher, der nicht aufs Essen verzichten kann, mit diesem Trick – man könnte auch “Nudge” sagen – in Schach.

Wie einfach der Mensch zu beeinflussen ist, beweist allein schon ein Besuch im Supermarkt. Die Entscheidung, was eingekauft wird, hängt im Wesentlichen von der Präsentation ab. Jeder weiß inzwischen, dass billigere, qualitativ aber genauso gute Waren ganz weit unten oder hoch oben im Regal zu “suchen” sind – finden soll man sie ja möglichst gar nicht. Obst und Gemüse wirken durch entsprechende Beleuchtung frischer als sie sind und große Verpackungen täuschen viel Inhalt vor. Kleine aber feine Tricks, die der Lebensmittelindustrie seit Jahrzehnten zuverlässig Milliarden in die Kassen spülen. Obwohl der Verbraucher immer wieder darüber informiert wird, lässt er sich ein ums andere Mal zu falschen Kauf-“Entscheidungen” verführen.

Natürlich wecken solche Erkenntnisse auch politische Begehrlichkeiten. Was spricht dagegen, den Bürger mit sanften Schubsern dazu zu bringen, Energie zu sparen, fürs Alter vorzusorgen, mit dem Rauchen aufzuhören, sich gesünder zu ernähren oder eben pünktlich seine Steuern zu zahlen. Kleine Tricks statt harter Ge- und Verbote! Klingt doch erst einmal gut. Kritiker aber sehen im Nudging eine Form der Bevormundung. Der Staat kann seine Bürger mittels Nudging manipulieren, ganz ohne demokratische Kontrolle. Wer sollte ihn daran hindern, sich Bürger nach seiner Vorstellung zu formen?

Wie schon heute Verhaltenspsychologie auch bei uns in der Politik eingesetzt wird, zeigt der jüngste Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn aus der Freiwilligkeit der Organspende eine Pflicht zu machen. Bislang muss jeder Deutsche seine Bereitschaft zur Organspende erklären. Tut er das nicht, lehnt er sie automatisch ab. Jetzt wird an die Umkehr der bisherigen Praxis gedacht, die einfach auf die menschliche Trägheit setzt: Jeder ist Organspender, es sei denn, er widerspricht ausdrücklich. Da haben wir es, das „Abo-Phänomen“, auf das der Bundesgesundheitsminister hier spekuliert: Der Widerspruch bleibt Vorsatz, die Umsetzung lässt auf sich warten, im besten Fall bis zum Nimmerleinstag. Und nur so ist es gewollt! Die britischen Finanzbehörden machen sich übrigens die verhaltenwissenschaftliche Erkenntnis zu nutzen, dass der Einzelne dazu neigt, sich in Ansichten und Verhaltensweisen den Menschen in seiner Umgebung anzupassen. Selbst wenn er erkennt, dass die Gruppe sich irrt, unterwirft er sich lieber dem Gruppenzwang als anzuecken. Auch das erläutern Thaler und Sunstein in ihrem Buch ausführlich. Ein lesenswertes Buch für alle, die sich nicht länger ohne Gegenwehr den fortgesetzten Manipulationen von Wirtschaft, Politik und Umwelt aussetzen wollen.  /sis

 

 

 

Nudge Teil II: Wie die Bundesregierung “wirksam regieren” will. “besser-klartext.de” sprach darüber mit Bundestagsabgeordneten der Regierungsparteien CDU und SPD. hier

 

 

 

 

 

Nudge Teil III: Ausführliche Besprechung des Buches von Richard Thaler und Cass Sunstein: Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt hier

3 Gedanken zu „Nudge Teil I: Nur ein Schubs in die richtige Richtung?

  • 17. September 2018 um 17:19 Uhr
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    Interessante Aufbereitung, wenn auch teilweise etwas dämonisierend. Nur zur Info: In GB ist es das Behavioral “Insights” Team (BIT) und nicht Unit. Bin auf den zweiten Teil gespannt.

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    • 18. September 2018 um 6:50 Uhr
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      Das ist richtig, offiziell heißt die Einheit so, wird aber in Großbritannien und inzwischen weltweit fast nur noch “Nudge Unit” genannt.

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  • 15. September 2018 um 16:20 Uhr
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    Ganz subtile Manipulation. Traurig dass man dies in der Bundesregierung aber auch in der Wirtschaft einsetzt. Das sollte jeden zum Denken anregen. Vielleicht doch raus aus der Komfortzone und wieder selbst denken.

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